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Stefanie Gregg: Der Duft nach Weiß

Roman // Pendragon Verlag // 2018
320 Seiten // 10 Euro

Als wir schon dachten, dass wir nun gehen dürften, fragte er doch noch etwas: „Und der Vater? Dessen Namen fehlt mir noch.“
Ich blickte auf. Das war eine ganz ungeheuerliche Frage. Ich hatte nie in meinem Leben gewagt, diese Frage zu stellen. Natürlich, ich musste einen Vater haben, so viel war mir klar, aber ebenso klar war mir, dass ich absolut nicht danach fragen konnte.
Baba warf mir einen unsicheren Blick zu, sah dann wieder den Direktor an und schüttelte einfach nur den Kopf. „Unbekannt?“, fragte er leise. Und Baba nickte erleichtert.
Er notierte sich etwas und in mir breitete sich ein ungeheures Gefühl von Schande aus.
Die Mutter in Deutschland.
Der Vater unbekannt.

Anelija wächst mit ihrer Baba und Baba Milena in einem kleinen Dorf in Bulgarien auf. Ihre Babas arbeiten hart auf dem Feld und das Haus hat gerade so Platz für drei Leute, doch sie sind zufrieden und müssen, auch wenn sie sparen, nie hungern. Dennoch hat es Anelija nicht leicht, was sie schon beim Vorstellungsgespräch beim Direktor der Grundschule erleben muss. Alle Kinder werden am ersten Schultag von ihren Eltern begleitet, doch Anelija hat nur ihre Babas. Die Mutter in Deutschland. Der Vater unbekannt. Während ihr Vater von der Familie totgeschwiegen wird, erhalten sie von der Mutter Briefe aus Deutschland, die auf weißem Papier von einem Paradies mit bunten Häusern, ordentlichen Vorgärten und geteerten Straßen berichten. Gemischte Gefühle begleiten Anelija — die Sehnsucht nach der eigenen Mutter und zugleich wurde sie verlassen und kann den Verrat nicht verzeihen.
So hat Anelija immer das Gefühl, besonders dankbar für ihren Schulplatz zu sein und will dies mit Fleiß und guten Noten zurückzahlen. Sie ist das erste Kind, dass Lesen und Schreiben kann, die Klassenbeste mit den besten Zensuren. Dennoch kommen je älter sie wird Zweifel auf: Wenn der Kommunismus das beste Wirschafts- und Sozialsystem ist, warum sind die Menschen auf dem Land noch immer so arm und mittellos? Warum müssen die Muslime ihre Namen ändern und warum sagt niemand, was er denkt?

Georgi Markow ist zu lange systemkritisch gewesen und seine literarischen Werke laufen der Ideologie zuwider. Dank eines Freundes kann er aus Bulgarien fliehen und spricht nun bei Radio Sendern wie BBC und free Europe über die Zustände in Bulgarien und kritisiert Staatschef Todor Schiwkow. Doch selbst in London und im Urlaub muss Markow feststellen wie weit der Arm des bulgarischen Staatschefs reicht — er wird nirgendwo vor den kommunistischen Geheimagenten sicher sein.

Stefanie Gregg berichtet von zwei bulgarischen Schicksalen, von einer lauten und einer schweigenden Rebellion. Die Autorin begeistert mit einem durchdringenden Erzählungsstil mit unglaublicher Tiefe, die sehr berührt, ohne dass der Leser von einer Wortgewalt erschlagen oder angeschrien wird.

Beim Lesen musste ich tatsächlich einen Moment inne halten und staunen, nicht zuletzt über meine eigene Unwissenheit: Selbstverständlich weiß ich, dass während des Kriegs viele sowjetische Geheimagenten auf der ganzen Welt verteilt waren und Menschen aufgrund ihrer freien Meinungsäußerung verfolgt und inhaftiert wurden. Doch dass 1978 ein Schriftsteller vom Geheimdienst vergiftet wurde, weil er das politische System und den Staatschef kritisierte, hat mich dennoch geschockt. So ein kaltblütiger Mord aufgrund von wahnsinnigen Ideologien und Menschen, die aus Angst um sich selbst und ihre Familie dem System zum Erfolg verhelfen, liegt noch gar nicht so weit zurück wie wir es uns wünschen.
Gerade in diesen Zeiten, in denen der Fanatismus egal in welche Richtung wieder an Boden gewinnt, sollten wir uns diesen Umstand häufiger ins Gedächtnis rufen und dafür dankbar sein, was wir haben. Ein Land, in dem wir unseren Berufsweg selbstständig einschlagen können und es Presse- und Meinungsfreiheit gibt.

„Der Duft nach weiß“ ist ein emotionaler, packender Roman, der mir mal wieder gezeigt hat, dass wir schätzen sollten, was wir haben.

„Aber du selbst hast es doch gar nicht persönlich erlebt.“
„Enno, man spürt es ständig, jede Sekunde weiß man, dass ein falsches Wort genügt. Man muss nicht selbst die Folter erlebt haben, sie liegt in der Luft.“
Ich spürte meinen eigenen Worten nach und verstand nun erst selbst die Angst, diese unheimliche Stille, die immer um mich herum gewesen war.
„Die Baba hat immer gesagt: ˋSch, nur nicht zu viel reden. Sagst du nichts, lassen sie dich leben.´[…]“


Wir danken dem Pendragon Verlag für das Rezensionsexemplar.

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