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Hiromi Goto: Chor der Pilze

Drei Generationen, drei starke Frauen, die mit ihrer japanischen Seele in Kanada leben. Naoe, die 85 jährige Großmutter ist vor 20 Jahren eingewandert. Sie sitzt auf einem Stuhl im windigen, staubigen Hausflur, beobachtet alles und murmelt unaufhörlich japanische Wörter vor sich hin.

„Ha! Mein Wahnsinn hat Methode, Keiko. Ich könnte mich auf den Kopf stellen und Shakespeare zitieren, bis ich Nasenbluten bekomme, aber es würde nichts nützen, niemand hört meine Sprache. Also sitze ich hier und spreche die Wörter und werde das tun, bis der Wind stirbt oder ich. Jemand, etwas muss sich gegen den Wind stemmen, und ich werde es tun. Ich tue es.“

Hiromi Goto: Chor der Pilze 
Roman // Original: Chorus of Mushrooms (1994)
Cass Verlag // 2020 // Aus dem Englischen von Karen Gerwig 
Gebunden // 263 Seiten // 22,00 Euro

In Naoes Geschichte lebte sie als Kind in einer glücklichen reichen Familie in Japan, bis die Dorfbewohner ihren Vater überlisteten und die Familie ihren Besitz verlor und fliehen musste. Keiko, Naoes Tochter, hat mit der Einwanderung ihre japanische Identität abgelegt. Sie betreibt mit ihrem Mann eine Pilzfarm und weigert sich japanisch zu sprechen, zu lesen oder zu kochen. Für sie ist Naoe eine alte Närrin, aber Naoe weiß um ihre gegenseitige tiefe Bindung: „Kind nach meinen Herzen, so ist das wohl. Wir sind völlig ineinander verkeilt, jede stemmt sich gegen die andere und nichts bewegt sich. Stur sind wir und werden es belieben, zweifellos.“

Aber es gibt sehr anrührende intime Szenen, in denen Beide ihre Kluft überbrücken können und die Tochter der Mutter die Haare wäscht und die Mutter der Tochter die Ohren säubert. Während eines Schneesturms beschließt Naoe plötzlich, dass es genug ist und die Zeit für eine Veränderung gekommen ist. Sie packt ihr Bündel, klaut Keikos Kreditkarte und bricht auf. Auf dem Weg in ein neues Leben wird sie ein Stück von einem jungen Trucker mitgenommen. Keiko wirft das Verschwinden ihrer Mutter vollkommen aus der Bahn, aphatisch verlässt sie ihr Bett nicht mehr.

Murasaki – Muriel – ist Keikos in Kanada geborene Tochter. Sie versucht mit japanischen Wurzeln als Kanadiarin zu leben und liebt Mutter und Großmutter. Naoe und Murasaki sind durch ein inneres Verständnis verbunden. So erzählt die Großmutter der Enkelin abends im Bett oft japanische Geschichten und Mythen und Murasaki versteht ohne die Worte zu kennen. Nach Naoes Verschwinden entwickeln sie eine telepathische Verständigung und Naoe erklärt Murasaki, wie sie ihre Mutter wieder heilen kann.

Der Chor der Pilze ist ein großartiges Buch über Identität und tiefe Beziehungen. Ein ineinander verschlungenes Gewebe aus drei Leben, so scheint Murasaki die Geschichte ihrem Freund zu erzählen, wobei sie auch immer wieder aus Perspektive der drei Frauen erzählt wird. Als der Freund sich beschwert, dass Murasakis Erzählung ihn vollkommen verwirrt, da sie immer in der Zeit herumspringe und er nie wisse, in welcher Reihenfolge die Dinge passiert seien, antwortet Murasaki:

„Es gibt keine Zeitachse. Es ist keine lineare Gleichung. Du fängst in der Mitte an und entfaltest dich von dort nach außen. Es ist keine glatte Fläche, auf der du hin und her gehst. Es ist wie eine Kugel, die nicht direkt ein Ball ist, sondern eigentlich aus tausenden und Abertausenden von kleinen Tafeln besteht. Und auf jeder Tafel ist ein Spiegel, aber jeder Spiegel wirft etwas anderes zurück. Und von da aus, wo du kauerst kannst du, wenn du den Kopf nach oben oder herum oder nach unten oder zur Seite drehst, etwas Neues sehen, etwas Altes oder etwas, was du vergessen hast.“

Und wie Murasakis Antwort zeigt, überzeugt Chor der Pilze nicht nur mit seiner Handlung sondern auch durch den tollen Schreibstil von Hiromi Goto. So ist der Chor der Pilze ist ein großes Lesehighlight! 

Wir danken dem Cass Verlag für das Rezensionsexemplar. 

Vorgelesen von 
    Gisela 

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