In East West Street verflechtet Phillipe Sands geschickt die Geschichte seines eigenen Großvaters mit der von zwei bedeutenden Juristen, Rafael Lemkin und Hersch Lauterpacht.
Philippe Sands: East West Street
Reportage // Orion Publishing // 2017
496 Seiten // 9.99 Pfund // Paperback
Meine erste Assoziation mit Nürnberg ist der Nürnberger Christstollen. Meine zweite Assoziation sind die Nürnberger Prozesse. Dies liegt vermutlich daran, dass ich einerseits ein großer Weihnachtsfan bin. Andererseits habe ich letztes Semester eine Vorlesung zur Juristische Zeitgeschichte belegt, wo wir unter anderem auf die Geburtsstunde des Völkerstrafrechts zu sprechen kamen. Denn seit den Nürnberger Prozessen und deren Prinzipien können sich einzelne Personen nicht mehr hinter dem Staat verstecken und ihre Handlungen können völkerrechtlich sanktioniert werden. Diese Innovation war vor allem durch die Einführung neuer Tatbestände möglich, die heute weit bekannt und anerkannt sind. Zwei von ihnen sind Verbrechen gegen die Menschheit und Genozid - ein mal geht es um den Schutz von Individuen, letzteres schützt eine ethnische Gruppe. Ihre „Väter“ hingegen sind weniger bekannt, die Juristen Hersch Lauterpacht und Rafael Lemkin.
Phillipe Sands beschreibt die Vorgeschichte von Lauterpacht und Lemkin und wie sie und ihre Tatbestände nach Nürnberg gelangt sind. Während des Gerichtsverfahrens liegt Sands Fokus - wie damals vermutlich der von Lauterpacht und Lemkin - auf Hans Frank. Frank war während des NS ein enger Vertrauter Hitlers und höchster Jurist des Dritten Reichs. Während des Zweiten Weltkriegs hatte Frank das Generalgouvernement des annektierten Teils Polens und später Galiziens inne, also auch die Region, in der die Familien von Lauterpacht und Lemkin gelebt haben, und für deren Deportation Frank verantwortlich ist.
Während seiner Recherchen spricht Sands mit den unterschiedlichsten Menschen. Er trifft die Söhne von Frank und Lauterpacht, Niklas Frank und Eli Lauterpacht, die Tochter eines damaligen Richters von Nürnberg und seine Verwandten in Israel. Nicht nur die verschiedenen interessanten Persönlichkeiten machen das Buch so fesselnd. Sands verfolgt auch seine eigene Familiengeschichte, denn so wie Lauterpacht und Lemkin hat auch Sands Großvater Leon seine Wurzeln in dem heutigen Lviv, ehemals Lemberg. Sie alle verbindet eine Straße in Lviv, die East West Street. Doch alle drei entscheiden sich dazu über diese Vergangenheit zu schweigen und ihren Kindern nichts von ihrem Leben vor dem zweiten Weltkrieg zu erzählen. Auch Leons Nichte, die Sands in Israel aufspürt, wählt diesen Weg und wird zum „Girl Who Chose Not To Remember“.
Auf der anderen Seite berichtet Sands von Niklas Frank, der seinen Vater zu tiefst verabscheut und das vernichtende Buch „Mein Vater: Eine Abrechnung“ geschrieben hat. Der Sohn von Otto Wächter, Horst Wächter, hingegen glaubt noch immer fest daran, dass sein Vater ein guter Mensch war.
Sands zeichnet so viele Ansichten und Perspektiven nach, verfolgt Spuren in alle Richtungen und hält dabei auf über 400 Seiten seinen ruhigen, einfühlsamen Stil und Ton bei, der über keinen der Beteiligten urteilt. Ich glaube etwa ein leichtes Favorisieren von Lauterpachts „Verbrechen gegen die Menschheit“ herausgelesen zu haben, trotzdem idealisiert oder heroisiert er Lauterpacht nicht. So schreibt Sands humorvoll während eines Besuchs von Lauterpachts Mutter in London 1928 über Lauterpacht: „He was equally resistant to his mother’s efforts to influence Rachel, who adopted a fashionable Louise Brooks bob and fringe. „Incandescent“ when he saw the new style, Lauterpacht insisted that she return to the bun, prompting a major row between the couple and a threat from Rachel to leave him. […] Individual rights for some, but not for the mother or the wife.“ Jahrzehnte später glaubt Sands Rachel Lauterpacht übrigens auf einer Gartenparty mit Bob gesehen zu haben.
East West Street ist ein tolles, interessantes Buch über einzelne Schicksale, die ein großes Ganzes zusammensetzen und zugleich erforscht, wie Menschen mit ihren Familiengeschichten umgehen. Eine absolute Leseempfehlung nicht nur für Strafvölkerrecht-Interessierte, sondern jeden, der Sands bei einer Schnitzeljagd in seine Vergangenheit verfolgen will.
Philippe Sands: East West Street
Reportage // Orion Publishing // 2017
496 Seiten // 9.99 Pfund // Paperback
Phillipe Sands beschreibt die Vorgeschichte von Lauterpacht und Lemkin und wie sie und ihre Tatbestände nach Nürnberg gelangt sind. Während des Gerichtsverfahrens liegt Sands Fokus - wie damals vermutlich der von Lauterpacht und Lemkin - auf Hans Frank. Frank war während des NS ein enger Vertrauter Hitlers und höchster Jurist des Dritten Reichs. Während des Zweiten Weltkriegs hatte Frank das Generalgouvernement des annektierten Teils Polens und später Galiziens inne, also auch die Region, in der die Familien von Lauterpacht und Lemkin gelebt haben, und für deren Deportation Frank verantwortlich ist.
Während seiner Recherchen spricht Sands mit den unterschiedlichsten Menschen. Er trifft die Söhne von Frank und Lauterpacht, Niklas Frank und Eli Lauterpacht, die Tochter eines damaligen Richters von Nürnberg und seine Verwandten in Israel. Nicht nur die verschiedenen interessanten Persönlichkeiten machen das Buch so fesselnd. Sands verfolgt auch seine eigene Familiengeschichte, denn so wie Lauterpacht und Lemkin hat auch Sands Großvater Leon seine Wurzeln in dem heutigen Lviv, ehemals Lemberg. Sie alle verbindet eine Straße in Lviv, die East West Street. Doch alle drei entscheiden sich dazu über diese Vergangenheit zu schweigen und ihren Kindern nichts von ihrem Leben vor dem zweiten Weltkrieg zu erzählen. Auch Leons Nichte, die Sands in Israel aufspürt, wählt diesen Weg und wird zum „Girl Who Chose Not To Remember“.
Auf der anderen Seite berichtet Sands von Niklas Frank, der seinen Vater zu tiefst verabscheut und das vernichtende Buch „Mein Vater: Eine Abrechnung“ geschrieben hat. Der Sohn von Otto Wächter, Horst Wächter, hingegen glaubt noch immer fest daran, dass sein Vater ein guter Mensch war.
Sands zeichnet so viele Ansichten und Perspektiven nach, verfolgt Spuren in alle Richtungen und hält dabei auf über 400 Seiten seinen ruhigen, einfühlsamen Stil und Ton bei, der über keinen der Beteiligten urteilt. Ich glaube etwa ein leichtes Favorisieren von Lauterpachts „Verbrechen gegen die Menschheit“ herausgelesen zu haben, trotzdem idealisiert oder heroisiert er Lauterpacht nicht. So schreibt Sands humorvoll während eines Besuchs von Lauterpachts Mutter in London 1928 über Lauterpacht: „He was equally resistant to his mother’s efforts to influence Rachel, who adopted a fashionable Louise Brooks bob and fringe. „Incandescent“ when he saw the new style, Lauterpacht insisted that she return to the bun, prompting a major row between the couple and a threat from Rachel to leave him. […] Individual rights for some, but not for the mother or the wife.“ Jahrzehnte später glaubt Sands Rachel Lauterpacht übrigens auf einer Gartenparty mit Bob gesehen zu haben.
East West Street ist ein tolles, interessantes Buch über einzelne Schicksale, die ein großes Ganzes zusammensetzen und zugleich erforscht, wie Menschen mit ihren Familiengeschichten umgehen. Eine absolute Leseempfehlung nicht nur für Strafvölkerrecht-Interessierte, sondern jeden, der Sands bei einer Schnitzeljagd in seine Vergangenheit verfolgen will.
Vorgelesen von
Gianna
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