Direkt zum Hauptbereich

Max Porter: Lanny

Roman // Original: Lanny  
Kein&Aber // 11. März. 2019 // aus dem Englischen von Matthias Görlitz, Uda Strätling 
224 Seiten // 22 Euro // Hardcover

Mit Lanny hält Max Porter dem Leser einen Spiegel vor, der seine Wünsche und Sehnsüchte entzaubert. Am Ende ist die Flucht aus der Realität und die bedingungslose Liebe der Mutter zu ihrem Sohn das einzige was Bestand hat.

Damit Lanny auf dem Land aufwachsen kann, kaufen seine Eltern in Pendlernähe zu London ein Haus in der schönen englischen Countryside. Lannys Vater, der in der City arbeitet, pendelt fortan, während Lannys Mutter, eine frührere Schauspielerin, ihrem neuen Beruf als Krimiautorin auch vom Land aus nachgehen kann. Lanny wird zum "Dorfkind", sammelt Steine, Schneckenhäuser, Pflanzen, baut Hütten im Wald und summt und singt Lieder in einer eigenen Sprache vor sich hin. Aber mit genau diesen vermeintlichen "Dorfkind-Attributen" wird er schnell zum Außenseiter und von den wirklichen Dorfkinder gehänselt und als Sonderling angesehen.

Lannys Vater steht dem Dorfleben skeptisch gegenüber und wundert sich eher der Vater dieses kleinen zauberhaften Sonderlings zu sein. Anschluss findet Lanny an den exzentrischen alternden Künstler Pete, der alleine lebt und arbeitet und von den Dorfbewohnern nur der irre Pete genannt wird. Aber bis auf die alte Peggy, die natürlich dem Klischee nach immer am Gartenzaun steht und die Vorbeikommenden in ein Gespräch verwickeln will, sind eigentlich alle Dorfbewohner irgendwann "Zugezogene" und keine richtigen Dorfbewohner, so dass die Frage aufkommt, was eigentlich ein richtiges Dorf und richtige Dorfbewohner ausmacht.

Aber hier hat Porter die Antwort: der eigentliche, richtige Dorfbewohner oder sogar der Inbegriff des Dorfs, ist ein Dorf- oder Waldgeist, um den sich viele Legenden und Mythen ranken. Im Englischen heißt er Old Father Toothwort und gehört zur alten englischen Familie von Pucks, Waldgeistern und Flußgöttern. Toothwort oder Schuppenwurz ist nach Wikipedia eine krautige, fast chlorophyllfreie Schmarotzerpflanze. Ihre kleinen Sauorgane dringen in das Gewebe von Bäumen oder anderen Wirtspflanzen ein und saugen deren Saft. Hier gibt es eine Szene, in der Pete Lanny erzählt, dass bei Bäumen die Verletzung der Rinde zum Absterben führen können, da alle wichtigen Adern dort verlaufen. Lanny weiss das schon und hebt zum Beweis die Arme.

Leider ist Vater Schuppenwurz nun wieder einmal aufgewacht und zieht durch das Dorf, sich von Gesprächsfetzen und Gedanken der Bewohner ernährend. Sein besonderer Liebling ist Lanny, wahrscheinlich weil Lanny ja auch der eigentliche, richtige Dorfbewohner ist.

Die Tragödie beginnt als Lanny verschwindet und damit eine Maschinerie in Gang gesetzt wird, in der sich alle Beteiligten von ihrer schlechtesten Seite zeigen und humane Züge verlieren. Egal ob Polizei, Sensationspresse, Nachbarn, Klassenkameraden, es wird jedem Gerücht nachgegangen und es bleibt quasi kein Stein auf dem anderen. Sensationsgier, Profitsucht, Desinteresse oder einfach nur Faulheit, alte Vorurteile gewinnen die Oberhand über sonst unterdrückte Gefühle. Hier wird der Roman jetzt sehr hart, während Porter das Geschehen in Sequenzen von Aussagen und Gedanken wiedergibt.

Am Ende geht es für Lanny Kraft Übernatürlichkeit und Mutterliebe noch einmal gut aus, es gibt einen Hoffnungsschimmer, die Realität kann jemanden wie Lanny nicht ganz vernichten. Aber Porter hat in seiner Zivilisationskritik nicht viel Positives übriggelassen an uns normal Sterblichen.


Wir danken KEIN&ABER für das Rezensionsexemplar.

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Ilinca Florian: Das zarte Bellen langer Nächte

Roman // Karl Rauch Verlag // 2020 160 Seiten // 20.00 Euro // gebunden mit Lesebändchen Das zarte Bellen langer Nächte ist ein typisches Buch über eine verlorenen Seele in der Großstadt Berlin und über das Erwachsenwerden. Nach ihrem Studienabschluss weiß Hannah nicht, wohin ihr Weg sie führt. Sie nimmt verschiedene Jobs an, um sich über Wasser zu halten, so arbeitet sie für das KaDeWe oder auch für Zalando bei der Rücknahme von Kleidungsstücken. Bei vor allem letzteren fand ich einen Eindruck in die Arbeitsweise spannend, doch auch dort hält es Hannah nicht lange. Sie ist in gewisser Weise rastlos, ohne hibbelig zu sein, verloren, ohne orientierungslos zu sein: Hannah ist weder traurig noch besonders glücklich. Sie denkt an früher, als sie oft alleine durch den Wald spazierte, der in der Nähe ihres Gymnasiums lag. Hat sie sich verändert? Überhaupt nicht. Seltsam, der Gedanke. Dass man immer der gleiche Mensch bleibt, es werden nur Jahre, Kleidung, ein wenig Schminke und eine g

Der Trubel des akademischen Lebens

ACADEMIA  ist ein statirischer Roman über die Welt der Universitäten und akademischen Weihen. Eve Braintree hat nach der Trennung von ihrem Freund ihre Professorenstelle an der Ostküste aufgegeben, um als Leiterin des Medienzentrums einer renommierten Universität im sonnigen Kalifornien ein neues Leben zu beginnen.  Karen Ruoff: ACADEMIA Roman // Originaltitel: Coming up Ruses Argument Verlag // 2021 // Übersetzt von Christa Schuenke Seiten 400 // 24,00 Euro // Gebunden mit Lesebändchen Als die Budgets der Universität drastisch gekürzt werden, lernt Eve schnell die Schattenseiten des Universitätslebens kennen: Hartley Kendall der Präsident der Universität ist der Prototyp des Machtpolitikers. Nach außen vertritt er zwar den strikten Sparkurs, verfolgt aber nur seine eigenen Reichtums und Machtinteressen. Denn Einfluß an der Universität und in dessen Stiftungsrat haben nur die Mitglieder und Förderer der U_S, was U_numschränkte S_eelenruhe bedeutet. Psychaterin und Hellseherin Anna Na

Andreas Lehmann: Schwarz auf Weiss

Wieder hat der Karl Rauch Verlag es geschafft mich bereits mit der Cover-Gestaltung zu überzeugen. Ich wünschte alle meine Bücher würden so aussehen! Karl Rauch Verlag // 2021 176 Seiten // 20,00 Euro // Hardcover Als Martin Oppenländer erkennt wie sinnlos und monoton seine Arbeit letztlich ist, will er nicht länger von ihr abhängig sein. Kurzerhand macht er sich selbstständig. Doch die erhoffte Freiheit stellt sich nicht ein als die Welt auf einmal still steht. Da keine Aufträge hereinkommen, bleibt er in der Abhängigkeit, doch dieses mal nicht von einem Arbeitgeber, sondern vom Staat. Sein Leben scheint komplett aus den Fugen geraten zu sein, ohne Alltag mit einem Job, den er nicht ausüben kann. In dieses Chaos hinein erreicht ihn ein Anruf aus der Vergangenheit - von einer Frau, an die er sich nicht mehr erinnern kann. Als Martin ihr dies gesteht, ist sie zunächst nicht sonderlich erbaut darüber. Trotzdem ruft sie wieder an. Und während er versucht ein Bild von dieser Frau zusammen