1.- 10.2.2018
In der Nähe von Kuching, eine knappe Autostunde Richtung Süden hin zur indonesischen Grenze entfernt, liegt in den grünen Hügeln das Dorf Semengoh. Gleich dahinter führt eine Straße rechts hinein zu steilen, überwucherten Felshängen. Dort befinden sich der Eingang und das Büro des Semengoh Orang Utan Shelters. Es ragt hinein in den Primärurwald.
Von der schmalen Straße hinauf auf die nächsten Hügel waren vor Jahren Trails angelegt worden, unter anderem auch zwei botanische Lehrpfade. Alles musste geschlossen werden, weil die Besucher entweder Pflanzen ausgruben oder sich unsachgemäß bei Samen und Fruchtständen bedienten.
Oben auf einer Art Sattel müssen dann auch Autofahrer aufgeben und zu Fuß weiter. Kein Müll. Kein lautes Reden.
Wir treffen morgens ein und wandern langsam den gewundenen Pfad tiefer in den Wald. Es ist laut im Dschungel. Zu dem Grillenlärm gesellen sich hohe, lang andauernde Flötentöne. Unsichtbare Vögel mischen sich ein, Äste knarzen, Brüllen läßt sich hören. An der Fütterungsstelle, einer hohen Holzplattform vor einer Arena unter Bäumen, zu der Seile von weiter weg gespannt worden sind, warten schon einige Dutzend Menschen. Aber die Orangs zeigen sich nicht. Es ist Reifezeit im Urwald. Im Moment finden sie genug in der Wildnis, selbst die geretteten Jungtiere, die schon ausgesetzt worden sind, lassen sich jetzt seltener sehen.
Die meisten Besucher verlassen das Areal. Ich plaudere mit einem Ranger, um herauszufinden, ob wir doch einen Trail gehen dürfen. Nein. Ausgeschlossen. Es passiert zu viel. Manche Schlangen seien sehr unangenehm. Das Konzert in den Bäumen wird lauter.
„Great music“, murmle ich
„What?“
„Nature's music.“
„Ah, you mean the noise.“ Er lacht leise. „Yeah, kind of music.“
„And that melody?“ Der anhaltende Flötenton kommt wieder.
„A special zicada. The suncaller. She helps the sun get through clouds.“
Durch das dämmrige Gründunkel bricht ein greller Strahl.
„You see?“
Wir lächeln beide.
Ob wir am Nachmittag wiederkommen? Natürlich! Seit vierzig Jahren warte ich darauf einen Orang in freier Wildbahn zu sehen.
Beim Hinausgehen bemerke ich, dass mein Mann den Rangern erzählt, wie lange ich mir schon diese Begegnung wünsche. Am Nachmittag, trösten sie ihn, am Nachmittag kommen sie immer, auch Große.
Und so ist es tatsächlich.
Völlig verschwitzt sind wir auf der Holzbrücke oben angekommen, dort, wo die Ranger aus ihrem Büro und dem Urwald hinkommen, um die Besucher abzuholen. Es ist halb zwei. In einer Stunde werden die Besucher aus der Stadt eintrudeln.
Plötzlich starren die Ranger auf einen der hohen Bäume am Gegenhang. Und dann sehe ich es auch. Äste biegen sich, Blätter rauschen, ein brauner Klumpen leuchtet kurz auf, verschwindet wieder, andere Bäume werden bewegt, wir sehen genau, welchen Weg der Orang nimmt, bis er eines der Seile erreicht, das herunter zur Brücke führt. Ein großes Tier mit ausgeprägter schwarzer Gesichtsmaske.
„It's Edwin.“
„Yeah Edwin!“ Ein Ranger dreht sich zu uns. „22 years old. Good in shape.“
Jetzt sind wir vielleicht zehn Besucher. Ein Ranger läuft Edwin mit einem Büschel Rambutan (ähnlich wie Lychees) entgegen. Der Orang richtet sich direkt vor uns auf einem Baum ein und frisst. Manchmal streift uns ein Blick. Es ist ein gewaltiges Tier, aber angeblich nichts im Vergleich zu seinem Vater, der mittlerweile auf die 50 zugeht und das Territorium beherrscht, erfahren wir. Es gibt einige Jungmänner, die an der Übernahme interessiert sind. Dem Aussichtsreichsten wurde ein Finger abgebissen und er zog sich zurück. Die Ranger überwachen jedes einzelne der 22 Tiere hier. Ein Weibchen haben sie bis jetzt verloren, vermutlich an Wilderer, denn ihr Körper wurde nie gefunden. Sie hoffen, dass sie tiefer in den Urwald gewandert ist und doch noch lebt.
Einmal treffen sich Edwins und mein Blick, ich drehe als Erste den Kopf weg. Ein Ranger beobachtet mich. „They realize more than we think. Ah, you are smiling. Happy, lady?“
Mittlerweile sind wir an die 30 Menschen. Edwin hat die Rambutan alle gefressen, die Bananen verschmäht, sich drei Kokosnüsse in Hände und Füsse geklemmt und ist noch näher gekommen. Die Nüsse schlägt er gekonnt an einem Stamm auf, der Saft spitzt weit, mit sichtlichem Vergnügen schmatzt Edwin das Fruchtfleisch heraus. Die Ranger werden unruhig. Sie scheuchen uns von der Brücke. Wir sollen den Weg ninauf zur Futterstelle nehmen. Manchen Besuchern reicht es schon.
Wir sind vielleicht zwanzig, die sich aufmachen, als Edwin plötzlich Tempo zulegt und uns vor sich hertreibt. Der Ranger ist direkt hinter uns.
Klaus dreht sich im Lauf um für ein Foto: Edwin, der auf Vieren den Pfad entlang kommt, der Ranger, der sich zu ihm wendet und „slow, slow!“ ruft, was den Orang Utan nicht beeindruckt. Dann wir als die Letzten der Gruppe.
Ich bin noch nie bei so einer Hitze und Schwüle über Wurzelwerk bergan so schnell gelaufen! Irgendwann bleibe ich stehen und schaue zurück. Der Ranger spricht in sein Funkgerät, irgendwo hinter ihm ist Lärm. Ein weiterer Orang Utan, Ritchie, so alt wie Edwin, hat sich aus den Bäumen hinunter begeben und räumt im Unterholz auf.
An der Futterstelle haben sich Jungtiere (von sieben Jahren aufwärts) eingestellt. Sie fressen, sie spielen. Edwin klettert in luftige Höhen und betrachtet uns von oben. Ritchie trödelt herum und hält unseren Rückweg eine gute halbe Stunde besetzt. Es ist eine der schönsten halben Stunden meines Lebens.
Als wir an der Sammelstelle der Ranger vorbeikommen, winken sie mir zu.
„You saw them! Yeah, look at her smile!“
Später, auf der anderen Seite Borneos, werden wir mehrere Tage im Urwald verbringen. Wir werden wieder auf Waldmenschen, Makaken unterschiedlicher Art, seltsame Vögel, beeindruckende Baumriesen treffen. Ein vielleicht zwölf Jahre alter Orang Utan wird mit abgewandtem Gesicht einem sehr jungen Tier ein Stück Kokosmuss anbieten und den streitsüchtigen Makaken mit Langmut begegnen.
Alle Forest Research Center, die wir besuchen, strahlen großes Engagement aus. Das wird etwas konterkariert durch den Zustand mancher Strände.
In der Nähe Kota Kinabalus, einer Stadt an der Nordwestküste, deren Bevölkerungszahl in den letzten Jahren geradezu explodiert ist, hat die Infrastruktur nicht mithalten können. An manchen Stellen ist das Meer voll Müll. Wenn die Ebbe den Grund freilegt, offenbart sich stinkender Schlamm. Ich habe gehört, dass auch rund um die Inseln draußen die Qualität des Wassers sinkt. Vermutlich wird man sich bald etwas überlegen müssen, um die Taucherparadiese in der Chinesischen See nicht zu gefährden.
Wir jedenfalls haben ein hübsches Plätzchen an der Nordküste gefunden, um noch einige Tage Malaysia zu genießen. Auch hiwer ist der Strand schwer verschmutzt, obwohl die Boys jeden Morgen hinausgehen und Einiges an Plastik und anderem Müll wegkarren.
Und hier stolpere ich über eine weitere schöne Menschengeschichte: ich lerne eine Australierin kennen, die es der Liebe wegen vor 30 Jahren hierher verschlagen hat. Irgenwann einmal, bei einem Gespräch an der Bar unseres kleinen Hotels, das von einem Australier geleitet wird, der in den 70-er Jahren zu den besten Seglern der Welt gehörte und ebenfalls der Liebe wegen hier strandete, kamn die richtigen Leute zusammen. Sie sagt, es sei ein „Besoffenes Gespräch“ gewesen, aber ich weiß, wieviele gute Projekte ihre Existenz solchen Gesprächen verdanken. Jedenfalls war Peter damit einverstanden, auf seinem Hotelgelände ein Kühlhäuschen zu errichten mit allem, was sie für die Käsemacherei brauchte. Das hatte sie irgendwann einmal auf einer Farm daheim gelernt. Außerdem fanden sie eine Farm in Beaufort, nicht weit von Kota Kinabalu, die ihnen frische Milch direkt von den Melkmaschinen weg verkauft. Und dann begann ein mehrjähriger Lernprozess. Mittlerweile bekommen die Spitzenrestaurants der Gegend, eine Handvoll Spitzenhotels und zwei Supermärkte ihre Bries, Camenberts, Feta und Cheddars. Sie lacht, während sie mir das erzählt.
„Wer hätte gedacht,dass ich hier als Käsemacherin lande, in Borneo!“
Und sie läßt keinen Zweifel, dass ihr vielleicht noch einiges in der Zukunbft blüht. Denn sie ist Witwe, und die Welt ist groß.
Dann schauen wir hinunter ins regenverschwaschene Meer und auf den Mist, der sich wieder angesammelt hat. Ich erzähle ihr von den sauberen Straßen Kuchings. Ja, Sarawak, das sei anders. Da hätten die Chinesen das Sagen. Aber hier in Sabah. Den Malaien sei es egal. Sie lernen in der Schule, was Mülltrennung bedeutet und sie werfen außerhalb der Schulmauern alles überall weg, ohne nachzudenken, sagt sie und kurz spüre ich ihren Zorn.
Sie fragt mich aus. Nach zuhause, nach dem Käse, der auf unseren Almhütten noch von Hand produziert wird. Ich kann mich an mein Topfenexperiment in Frankreich erinnern, als ich in den 70-ern versuchte, aus Milch Topfen zu gewinnen und nichts kam aus der pasteurisierten Magermilch heraus. Wir lachen wieder. Ob ich Journalistin sei. Nein, Schriftstellerin. Geschichten? Ja, und Romane. Wunderbar. Sie mache Käse, ich erfinde Menschen, ich könne sie jederzeit verwerten, wenn ich so eine wie sie brauchte.
Ist das nicht wunderbar?
Der letzte große Roman, den ich aus diesem Land am Strand lese, ist der, der mich am meisten packt. Es ist wieder ein Generationenroman, einer, der die unterschiedlichen Kulturen und Völker dieses Landes darstellt. Und er beschäftigt sich auch mit einem Thema, das mich seit Jahren fasziniert: was macht Fremde fremd, Heimat heinatlich? Wie geht es Menschen, die sich Unterschiedlichem zugehörig fühlen und zusammen leben müssen?
Tash Aw: The Harmony Silk Factory
Erschien 2005 und gewann sofort den Whitbread First Novel Award, den Commonwealth Writers' Prize for Best Novel und erschien auf der Longlist des Man Booker Prize. Tash Aw ist vielleicht einigen als der Autor von Slumdog Millionaire bekannt, ein junger Malaie, der in England aufwuchs und nun in London lebt.
Der Roman besteht aus drei Teilen.
Der erste Mensch, der zu Wort kommt, ist Jasper, ein Mann in den Vierzigern, Sohn eines undurchsichtigen, chinesischen Tycoons in Malaysia in den späten 80-er, frühen 90-er Jahren. Jasper hat die letzte Zeit mit Recherche verbracht. Er will herausfinden, wer sein Vater Johnny wirklich war und ist. Denn dieser alte Mann, dessen Begräbnis Jasper dann so chinesisch und pompös wie nur möglich ausrichtet, ist für ihn ein Monster, das alles zerstört hat. Von seiner Mutter Snow weiß Jasper nichts – der Vater redet nicht über sie, die bei Jaspers Geburt gestorben ist. Langsam entdeckt Jasper, was seinen Vater zu diesem gefürchteten und gleichzeitig verehrten Mann gemacht hat. Beim Begräbnis spricht ihn ein uralter Engländer an, der ihm auch ein Päckchen übergibt, etwas, das er für Jasper sehr wichtig hält. Jasper wirft es in den Fond seinesWagens, er will nur weg, zurück an den Fluss seiner Kindheit.
Den zweiten Teil erzählt die junge Snow aus reichem, gebildetem Haus, die von ihren Eltern an Johnny verhökert wird und dann an einen extrem klugen japanischen Professor verkuppelt werden soll. Snows Versuch, sich in ihren Mann Johnny zu verlieben, scheitert kläglich.
Als dritter Erzähler fungiert der Engländer Peter Wormwood, der in Malaysia seine wahre Heimat findet, in Johnny seinen einzigen Freund, in Snow die Liebe seines Lebens, und der aus Unverständnis, Neid und Trotz alles vergiftet und zerstört. Dass er selbst ebenfalls ein Opfer ist, ist klar. Dass Kunichika mehr als ein Professor ist, ist auch fast allen klar. Denn 1940 hat die japanische Besetzung ganz Hinterindiens begonnen und 1941 stoßen alle Beteiligten aufeinander. Allen gemeinsam ist, dass sie ihre Voruteile mit sich schleppen und alles aus ihrem Blickwinkel beurteilen. Und keiner, trotz gegensätzlicher Behauptungen, interessiert sich wirklich für Johnny.
Es geht also um Beziehungen. Außerdem irrtiert dieser Roman gekonnt mit den europäischen Details. Tash Aw war es wichtig, einen spannenden Roman zu schreiben und ihn in Malaysia zu platzieren, weil es seit Joseph Conrad niemanden mehr gegeben hat, der aufso hohem Niveau eine Gesellschaft dort beschrieben hat.
Egal, aus welcher Welt die Leser kommen: in diesem Buch werden sie auf jeden Fall etwas von sich wiederfinden. Es ist packend, wie Aw erzählt und es ist großartig, was er nicht erzählt. Gekonnt versenkt er damit die Geschichte in unserem Gedächtnis.
Immer noch beschäftige ich mit diesen Figuren, schon längst zurück in Europa, im winterlichen Wien, in einer anderen Welt.
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