Vergessen wir die angebliche Stille dieser Jahreszeit!
Denn kaum habe ich meine Tagesarbeit erledigt und darf mich mit meinen Bücherstößen beschäftigen, klappe ein Buch auf, falle ich in eine Klangwelt, die mir alle Jingle Bells der Kaufhauswelten sofort zum Schweigen bringt. Ich höre anderes – und meist ist das gut so.
Heute stelle ich euch zwei Romane vor, die gar nichts gemeinsam haben und jeder ist einfach großartig.
Joanna Bator: Wolkenfern
Übersetzung Esther Kinsky
Roman, Suhrkamp 2013, 499 S.
Mein Taschenbuch trägt einen Cover in Schwarzweiß, eine kopfüber springende nackte Tänzerin im Schleiergewand und ich habe es nun bereits zweimal gelesen, um die vielen Details, diese Hinweise in Nebensätzen, diese komischen Dialoge, den federleichten Witz, mit dem Tragisches oder Grauenhaftes erzählt wird, richtig genießen zu können. Es gehört zu den Büchern, die in ihrem Erscheinungsjahr an mir vorübergingen, und ich bin glücklich, dass ich nun Zeit dafür gefunden habe.
Joanna Bator kommt aus Polen und ist eine wahre Nomadin (Das passt zu ihrem Beruf, sie ist auch Anthropologin). „Wolkenfern“ ist ihr zweiter Roman und wie „Sandberg“ hat er sofort eingeschlagen. Sie veröffentlicht bereits seit 15 Jahren, ist vermutlich die international bekannteste neue Autorin des Landes und erobert mit jeder neuen Übersetzung neue Leserschaften auf diesem Globus.
Dominika, die sich auf den Beginn ihres Studentenlebens freute, wacht in einem Spitalbett in Bayern auf, zugedröhnt vom unablässigen Redeschwall ihrer besorgten Mutter, umsorgt von der farbigen Krankenschwester Sara, die es aus New York nach München verschlagen hat.
Sara ist auf der Suche nach ihrer Urahnin, die „schwarze Venus“ genannt wurde, als Attraktion in London und Paris auftrat und angeblich von Napoleon geschwängert wurde. Dominika wiederum kommt aus einem weiblichen Universum in Polen, in dem jede Frau sich von den Geschichten des Clans und der Nachbarn, vor allem der Verschwundenen, zu ernähren scheint, und die Asche der getöteten Juden alles durchdringt. Ein Nachttopf, den Napoleon auf seinem Kriegszug einmal verwendet hat, wird als kostbares Unikum weitergegeben, bis er nach einer abenteuerlichen Flucht aus Polen in Brooklyn landet. Doch dies ist nicht die einzige Seidenfadenverbindung zwischen den zwei Frauen.
Ein Netz von Beziehungen umspannt die Kontinente, meist wissen die Erzähler noch gar nicht, dass Familienmitglieder einander kennen, oder das Schicksal Opfer und Täter, Vollstrecker und Barmherzige zusammenführt. Die Liebe ist der Motor, der alle antreibt. Natürlich ist diese Liebe manchmal pervertiert, manchmal nachlässig, oft verletzend, in überraschenden Augenblicken ungeheuerlich stark. Wenn es ganz besonders schlimm wird, kann man sicher sein, dass Joanna Bator eine Möglichkeit gefunden hat, es so schildern, dass das Lachen das Erschrecken abwürgt, dass ein spezieller Plauderton dem Infamen den Stachel nehmen kann. Das ist einfach großartig gemacht.
Denn selbst die Ungeheuer werden so dargestellt, dass man es aushält, ihrem Leben zu folgen. Die Frauen, die diese Welt zusammenhalten, nerven manchmal, (aber wie komisch sie sind!), agieren widersprüchlich, laden fast alle ein, sie zu lieben. Männer sind in diesem Roman eher Beiwerk, Auslöser für weibliche Träume, Begleiter en passant, Erzeuger von Babys, oft auch hoffnungslos Liebende.
Dieses Buch ist wie ein riesiges Wandbild voller winziger Szenen, die sich zu einem hinreißenden Ganzen fügen, phantastisch übersetzt. Man geht aus dieser Lektüre vielleicht hungrig, weil neben erotischen Verirrungen auch das Essen eine Rolle spielt. Aber man schließt den Roman gestärkt und hoffnungsfroh. Bei allem, was wir Menschen einander antun: es gibt Liebe, es gibt sich öffnende Herzen, es gibt Münder, die davon erzählen.
Ganz anders berichtet Stewart O'Nan:
Stewart O'Nan: Letzte Nacht
Roman, übersetzt von Thomas Gunkel
Mareverlag 2007, 160 S.
Stewart O'Nan interessiert sich für Kleinbürgertum und Arbeiterschicht Amerikas. Nicht umsonst ist er in Pittsburgh geboren und lebt nun auch wieder da. Es sind die Verlierertypen, denen sein Herz gehört und die er uns so unnachahmlich nahebringen kann wie in „Emily, allein“ oder dem großartigen „Abschied von Chautauqua“.
In diesem kleinen Roman geht es um die „Last Night at the Lobster“, wie es der englische Titel verrät. Der Filialleiter Manny versucht, auch am letzten Tag des Fast Food Restaurants alles erfolgreich und gut zu machen. Obwohl seine Mannschaft dezimiert ist (er musste bereits alle kündigen und darf nur fünf Kollegen mit zu seinem neuen Arbeitsplatz nehmen), kann er einen Sinn in seinem Leben nur darin erkennen, verlässlich zu arbeiten. Einige der Mitarbeiter sind zornig, manche frustriert, niemand empfindet einen Funken Freude. Nur Manny versucht, das Beste aus allem zu machen – und scheitert dabei, zumindest hin und wieder. Der Tag endet in einem Schneesturm, mit einer schlechten Kundenbilanz und Gewaltattacken eines gekündigten Mitarbeiters.
Es passiert scheinbar nicht viel. Wie immer erzählt O'Nan ganz ruhig, detailliert und nahe bei seinem Helden bleibend von Ungemach, Ungerechtigkeit, unerfüllten Träumen. Denn Manny ist immer noch in seine Mitarbeiterin verliebt, obwohl es da eine andere Frau gibt, die von ihm schwanger ist. Er muss die Aversionen seiner Leute unter Kontrolle halten und dabei die hungrigen Kunden zufriedenstellen. Typische Szenen reihen sich aneinander in diesem leicht heruntergekommenen Fastfood Restaurant, das direkt neben einer immer schlechter ausgelasteten Shopping Mall steht. Weihnachten steht vor der Tür. Und der Schnee verwandelt den allzu leeren Parkplatz in eine frostige Leere, die für Manny trotz seiner gesicherten Arbeitsstelle die Zukunft darstellt.
Ein unwichtiger Mensch an einem unwichtigen Ort mit einem unwichtigen Job, von dem völlig undramatisch berichtet wird. Und doch ist es eine Erzählung, die hängen bleibt. Klug hat O'Nan ausgewählt, was er erzählt und wie.
Kein Wunder also, dass es 2017 zum Stadtbuch Wiens erklärt und in der dafür üblichen Auflage von 100.000 Stück gratis verteilt wurde.
Mein neues Jahr beginnt mit einer längeren Reise. Diesmal wird es wieder nach Asien gehen. Ich werde einen meiner Lieblingsflüsse, den Mekong, besuchen, allerdings in einem Gebiet und an einem Ufer, das für den Massentourismus völlig uninteressant ist, später im Goldenen Dreieck Freunde und Waisenprogramme besuchen, die wir seit Jahren begleiten. Und dann geht es nach Borneo, weil ich unbedingt die Urwälder erleben möchte, in denen der Orang Utan noch zu Hause ist, bevor die fürchterlichen Ölpalmplantagen allem den Garaus gemacht haben.
Ich werde wieder von Menschen und Büchern erzählen, die mir unterwegs begegnen. Dass in der Literatur sich auch diese Gegenden und AutorInnen widerspiegeln werden, ist klar. Hoffentlich interessiert es euch genauso, mich dorthin zu begleiten wie vor 13, 14 Monaten an die Ostküste der USA (hier gelangt ihr noch mal zur ersten Station Boston).
Ein fröhliches Weihnachtsfest voll Freude und Zeitlöchern wünscht
Beatrix
Denn kaum habe ich meine Tagesarbeit erledigt und darf mich mit meinen Bücherstößen beschäftigen, klappe ein Buch auf, falle ich in eine Klangwelt, die mir alle Jingle Bells der Kaufhauswelten sofort zum Schweigen bringt. Ich höre anderes – und meist ist das gut so.
Heute stelle ich euch zwei Romane vor, die gar nichts gemeinsam haben und jeder ist einfach großartig.
Joanna Bator: Wolkenfern |
Übersetzung Esther Kinsky
Roman, Suhrkamp 2013, 499 S.
Mein Taschenbuch trägt einen Cover in Schwarzweiß, eine kopfüber springende nackte Tänzerin im Schleiergewand und ich habe es nun bereits zweimal gelesen, um die vielen Details, diese Hinweise in Nebensätzen, diese komischen Dialoge, den federleichten Witz, mit dem Tragisches oder Grauenhaftes erzählt wird, richtig genießen zu können. Es gehört zu den Büchern, die in ihrem Erscheinungsjahr an mir vorübergingen, und ich bin glücklich, dass ich nun Zeit dafür gefunden habe.
Joanna Bator kommt aus Polen und ist eine wahre Nomadin (Das passt zu ihrem Beruf, sie ist auch Anthropologin). „Wolkenfern“ ist ihr zweiter Roman und wie „Sandberg“ hat er sofort eingeschlagen. Sie veröffentlicht bereits seit 15 Jahren, ist vermutlich die international bekannteste neue Autorin des Landes und erobert mit jeder neuen Übersetzung neue Leserschaften auf diesem Globus.
Dominika, die sich auf den Beginn ihres Studentenlebens freute, wacht in einem Spitalbett in Bayern auf, zugedröhnt vom unablässigen Redeschwall ihrer besorgten Mutter, umsorgt von der farbigen Krankenschwester Sara, die es aus New York nach München verschlagen hat.
Sara ist auf der Suche nach ihrer Urahnin, die „schwarze Venus“ genannt wurde, als Attraktion in London und Paris auftrat und angeblich von Napoleon geschwängert wurde. Dominika wiederum kommt aus einem weiblichen Universum in Polen, in dem jede Frau sich von den Geschichten des Clans und der Nachbarn, vor allem der Verschwundenen, zu ernähren scheint, und die Asche der getöteten Juden alles durchdringt. Ein Nachttopf, den Napoleon auf seinem Kriegszug einmal verwendet hat, wird als kostbares Unikum weitergegeben, bis er nach einer abenteuerlichen Flucht aus Polen in Brooklyn landet. Doch dies ist nicht die einzige Seidenfadenverbindung zwischen den zwei Frauen.
Ein Netz von Beziehungen umspannt die Kontinente, meist wissen die Erzähler noch gar nicht, dass Familienmitglieder einander kennen, oder das Schicksal Opfer und Täter, Vollstrecker und Barmherzige zusammenführt. Die Liebe ist der Motor, der alle antreibt. Natürlich ist diese Liebe manchmal pervertiert, manchmal nachlässig, oft verletzend, in überraschenden Augenblicken ungeheuerlich stark. Wenn es ganz besonders schlimm wird, kann man sicher sein, dass Joanna Bator eine Möglichkeit gefunden hat, es so schildern, dass das Lachen das Erschrecken abwürgt, dass ein spezieller Plauderton dem Infamen den Stachel nehmen kann. Das ist einfach großartig gemacht.
Denn selbst die Ungeheuer werden so dargestellt, dass man es aushält, ihrem Leben zu folgen. Die Frauen, die diese Welt zusammenhalten, nerven manchmal, (aber wie komisch sie sind!), agieren widersprüchlich, laden fast alle ein, sie zu lieben. Männer sind in diesem Roman eher Beiwerk, Auslöser für weibliche Träume, Begleiter en passant, Erzeuger von Babys, oft auch hoffnungslos Liebende.
Dieses Buch ist wie ein riesiges Wandbild voller winziger Szenen, die sich zu einem hinreißenden Ganzen fügen, phantastisch übersetzt. Man geht aus dieser Lektüre vielleicht hungrig, weil neben erotischen Verirrungen auch das Essen eine Rolle spielt. Aber man schließt den Roman gestärkt und hoffnungsfroh. Bei allem, was wir Menschen einander antun: es gibt Liebe, es gibt sich öffnende Herzen, es gibt Münder, die davon erzählen.
Ganz anders berichtet Stewart O'Nan:
https://www.amazon.de/Letzte-Nacht-Stewart-ONan/dp/3499248980 |
Roman, übersetzt von Thomas Gunkel
Mareverlag 2007, 160 S.
Stewart O'Nan interessiert sich für Kleinbürgertum und Arbeiterschicht Amerikas. Nicht umsonst ist er in Pittsburgh geboren und lebt nun auch wieder da. Es sind die Verlierertypen, denen sein Herz gehört und die er uns so unnachahmlich nahebringen kann wie in „Emily, allein“ oder dem großartigen „Abschied von Chautauqua“.
In diesem kleinen Roman geht es um die „Last Night at the Lobster“, wie es der englische Titel verrät. Der Filialleiter Manny versucht, auch am letzten Tag des Fast Food Restaurants alles erfolgreich und gut zu machen. Obwohl seine Mannschaft dezimiert ist (er musste bereits alle kündigen und darf nur fünf Kollegen mit zu seinem neuen Arbeitsplatz nehmen), kann er einen Sinn in seinem Leben nur darin erkennen, verlässlich zu arbeiten. Einige der Mitarbeiter sind zornig, manche frustriert, niemand empfindet einen Funken Freude. Nur Manny versucht, das Beste aus allem zu machen – und scheitert dabei, zumindest hin und wieder. Der Tag endet in einem Schneesturm, mit einer schlechten Kundenbilanz und Gewaltattacken eines gekündigten Mitarbeiters.
Es passiert scheinbar nicht viel. Wie immer erzählt O'Nan ganz ruhig, detailliert und nahe bei seinem Helden bleibend von Ungemach, Ungerechtigkeit, unerfüllten Träumen. Denn Manny ist immer noch in seine Mitarbeiterin verliebt, obwohl es da eine andere Frau gibt, die von ihm schwanger ist. Er muss die Aversionen seiner Leute unter Kontrolle halten und dabei die hungrigen Kunden zufriedenstellen. Typische Szenen reihen sich aneinander in diesem leicht heruntergekommenen Fastfood Restaurant, das direkt neben einer immer schlechter ausgelasteten Shopping Mall steht. Weihnachten steht vor der Tür. Und der Schnee verwandelt den allzu leeren Parkplatz in eine frostige Leere, die für Manny trotz seiner gesicherten Arbeitsstelle die Zukunft darstellt.
Ein unwichtiger Mensch an einem unwichtigen Ort mit einem unwichtigen Job, von dem völlig undramatisch berichtet wird. Und doch ist es eine Erzählung, die hängen bleibt. Klug hat O'Nan ausgewählt, was er erzählt und wie.
Kein Wunder also, dass es 2017 zum Stadtbuch Wiens erklärt und in der dafür üblichen Auflage von 100.000 Stück gratis verteilt wurde.
Mein neues Jahr beginnt mit einer längeren Reise. Diesmal wird es wieder nach Asien gehen. Ich werde einen meiner Lieblingsflüsse, den Mekong, besuchen, allerdings in einem Gebiet und an einem Ufer, das für den Massentourismus völlig uninteressant ist, später im Goldenen Dreieck Freunde und Waisenprogramme besuchen, die wir seit Jahren begleiten. Und dann geht es nach Borneo, weil ich unbedingt die Urwälder erleben möchte, in denen der Orang Utan noch zu Hause ist, bevor die fürchterlichen Ölpalmplantagen allem den Garaus gemacht haben.
Ich werde wieder von Menschen und Büchern erzählen, die mir unterwegs begegnen. Dass in der Literatur sich auch diese Gegenden und AutorInnen widerspiegeln werden, ist klar. Hoffentlich interessiert es euch genauso, mich dorthin zu begleiten wie vor 13, 14 Monaten an die Ostküste der USA (hier gelangt ihr noch mal zur ersten Station Boston).
Ein fröhliches Weihnachtsfest voll Freude und Zeitlöchern wünscht
Beatrix
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