Original: The Snow Queen, 2014 (Roman)
Das
Buch beginnt an einem verschneiten Abend in New York, an dem Barrett eine
Erscheinung hat; er sieht das Licht. Es ist ein blasses türkisblaues,
transparentes Licht, ein Schleierfetzen, höher als die Sterne. Barrett ist es
als wenn das Licht, zu dem er hinaufsieht, auf ihn hinuntersieht. Barrett ist
38 Jahre alt und sieht sich als Figur
tragischer Leidenschaft, als Soldat der Liebe. Gerade hat wieder ein Freund mit
ihm Schluss gemacht, den er wieder einmal für den Richtigen hielt. Aber nun hat
sich der Himmel geöffnet und ein Auge hat ihn betrachtet und sich dann wieder
geschlossen. Ist Barrett auserwählt oder hat er sich das Wunder nur eingebildet?
Tyler
ist Barretts älterer Bruder, ganz der Musik und Poesie hingegeben. Tyler ist an
diesem Abend ein Schneekristall ins Auge geflogen als er das Schlafzimmerfenster schließen will.
Natürlich forderte der Kristall in
Tylers Auge und der Titel des Buches mich auf, nochmal das Märchen von Hans Christian Andersen
zu lesen: Wäre der Schneekristall ein winziger Teil von Andersens zerbrochenen Zauberspiegel,
dann sähe Tyler jetzt alles verkehrt oder hätte nur Augen für das, was bei
einer Sache verkehrt wäre.
Und
tatsächlich ist Tyler kein fröhlicher, positiver Mensch. Er leidet darunter,
dass ihm der große musikalische Durchbruch noch nicht gelungen ist. Nun versucht er einen genialen Song für seine
krebskranke Freundin Beth zu schreiben. Es soll sein Hochzeitssong werden, ein
Song für seine sterbende Braut, ein Song in dem sich seine Brillanz bündelt,
seine Hoffnung auf Heilung, seine Liebe zu Beth:
„Frostige Hallen durchwandern in der Nacht
Auf der Suche nach dir auf deinem Thron aus Eis“
Barrett,
Tyler und Beth wohnen zusammen in einer Wohnung in einem New Yorker Stadtteil,
indem die Mieten erschwinglich und die Menschen noch normal sind. Tyler liebt
die Beiden und fühlt sich für sie verantwortlich, will sie gerne in eine
schönere Wohnung in einem besten Stadtteil bringen, wenn er den großen
Durchbruch als Musiker erst geschafft hat. Er leidet an der Dummheit der
Menschen und einer möglichen Wiederwahl
Buschs. Nur das Kokain, sein Schnee, bringt ihm die ersehnte Klarheit, die
notwendige Lebendigkeit, es erneuert „seine Zugehörigkeit zur Welt“.
Barrett
und Tyler, beide sehr begabt und intelligent sind seit ihre Mutter auf dem
Golfplatz von einem Blitz getötet wurde, ziellos durchs Lebens gegangen.
Barrett als beinahe Literat und Philosoph mit vielen Jobs. Zur Zeit arbeitet er
in einem Edel-Vintage Laden, der Beth gehört. Barrett mag die für ihn einfache
Tätigkeit des Verkaufens, bei der er Lesen und Denken kann. T-Shirts
zusammenlegen hat für ihn fast Zen-Qualität. Und daneben betreibt er seine
geheimen und einsamen Studien. Ausgehend von seiner Lieblingsheldin Madame Bovary, die jeden Tag aufs Neue
auf das große Erlebnis hofft, arbeitet er an der Suche nach der „Weltformel“. Und
er hofft weiter darauf, dass die Liebe ihn findet.
Tyler
arbeitet als Barmann, der an einigen Abenden als Musiker auftritt. Doch Beth
Krebsdiagnose hat ihn verändert. Beths Pflege hat seinem Leben eine Aufgabe
gegeben, „hat einen erfolgreichen Menschen aus ihm gemacht“.
In
Andersens Märchen gelingt es der kleinen Gerda ihren Freund Kay aus den Fängen
der Schneekönigin zu entreißen und ihre
Tränen befreien ihn von seinen Glassplittern. Und tatsächlich scheint auch in
Cunninghams Schneekönigin ein Wunder zu geschehen: Beth scheint sich gegen alle
Erwartungen wieder zu erholen. War es das Wunder des Lichts oder Tylers Song
der Liebe?
Schon
vor Jahren habe ich von Michael Cunningham „Die Stunden“ (The Hours) gelesen.
Ein tolles Buch, eine Hommage an Virgina Woolf . Verfilmt wurde es mit Meryl
Streep, Julianne Moore und Nicole Kidman.
Auch
die Anlehnung an Hans Christian Andersen Märchen „Die Schneekönigin“ ist
Cunningham hervorragend gelungen. Seine
Schneekönigin ist ein anspruchsvoller Roman, da die Personen, ihre
Aussagen und Gedanken sehr vielschichtig sind.
Barrett
ist meine Lieblingsfigur. Er macht einfach immer weiter, erlebt, sammelt, besteht. Er hat nämlich eine
bedeutende Entdeckung gemacht: „Hohe Wellen zu schlagen, eine vielbeachtete
Karriere zu machen ist nicht nötig, nicht einmal für jene, die über einen
hochbegabten, überdurchschnittlich wendigen Verstand verfügen“.
Neben
Barrett, Tyler und Beth gib es noch weitere interessante Personen in Cunnighams
Buch wie die Mitbesitzerin des Vintage
Geschäftes Liz . Oder Andrew, Liz wesentlich jüngerer Liebhaber. Auf einer
Silvesterparty lernen wir auch Ping und seine Begeisterung für Jane Bowles kennen.
Ping erklärt Jane Bowles zur Schutzheiligen aller verrückten Ladies. Jane
Bowles war mit dem Schriftsteller Paul Bowles zusammen und lebte mit einer Frau
in Marokko. Und tatsächlich habe ich in meinem Bücherschrank ein Buch von Paul
Bowles, indem er über seine Erlebnisse schreibt (Taufe der Einsamkeit,
Reiseberichte 1950-1972). Da ich jetzt wieder Lust bekommen habe seine
Reiseberichte noch einmal lesen, werde ich euch demnächst davon mehr berichten.
Die Schneekönigin ist ein anspruchsvoller und auch bewegender Roman, der mir viele Impulse gegeben hat. Seine Vielschichtigkeit und Tiefe regen zum Nachdenken an.
Die Illustrationen stammen aus "Die schönsten Märchen von Hans Christian Andersen" (Sigbert Mohn Verlag, 1959) aus der Feder von Gerhart Kraaz.
Die Schneekönigin ist ein anspruchsvoller und auch bewegender Roman, der mir viele Impulse gegeben hat. Seine Vielschichtigkeit und Tiefe regen zum Nachdenken an.
Die Illustrationen stammen aus "Die schönsten Märchen von Hans Christian Andersen" (Sigbert Mohn Verlag, 1959) aus der Feder von Gerhart Kraaz.
Luchterhand Literaturverlag, 2015; aus dem Amerikanischen von Eva Bonn
Seiten 282, 21,99€
Für das Rezensionsexemplar danken wir:
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