[Roman]
In einer nicht zu fernen Zukunft gab es eine Kernschmelze im französischen Atomkraftwerk Cattenom, die weite Teile der umliegenden Länder unbewohnbar gemacht hat. Zuerst wurde aus politischen Gründen nur 30 km im Umkreis abgesperrt, wodurch in Luxemburg, Frankreich und Deutschland schon Kleinstädte wie Esch-sur-Alzette, Thionville und Herzig dichtgemacht wurden. Als die Speerzone aufgrund der Strahlenbelastung auf 50 km im Umkreis erweitert werden musste, wurde das Ausmaß der Katastrophe klar, weil sie nun auch Belgien als ein viertes Land sowie überregional bekannte Städte betraf. Zum Beispiel wurde Luxemburg mit seinen tausenden EU-Beamten geräumt.
Der kleine Ort Primstal im Nordsaarland - von dem ich schon begeistert in Frank P. Meyers Roman „Normal passiert da Nichts“ (Conte Verlag 2012) gelesen habe - widersetzt sich den Umsiedlungsbestrebungen der Regierung. Also wird der Ort in zwei Teile geteilt: einer wird Speerzone, der andere mit gleicher Strahlenbelastung jedoch für bewohnbar erklärt. Natürlich nehmen die jungen Leute mit kleinen Kindern oder Kinderwünschen das Geld der Regierung und gehen weg. Der harte Kern aber bleibt in Primstal und so wird der Ort immer älter, quasi zum „Wartesaal Gottes“ am Rande der Speerzone.
Dank der großzügigen Entschädigungs-Millionen der Regierung haben die verbleibenden Bewohner eine funktionierende Dorfgemeinschaft. Es gibt eine ordentliche Dorfmensa in der ehemaligen Grundschule. Die medizinische Versorgung ist aufgrund eines technisch und personell gut ausgestatteten Gesundheitszentrum ausgezeichnet, es stehen genug Pfleger und Betreuungskräfte zu Verfügung, es gibt einen Bringservice für Medikamente und Nahrungsmittel; „eigentlich ein Paradies für alte Leute, wenn es nicht so strahlen würde“.
Höhepunkt des Dorflebens ist die alljährliche Kirmes mit dem Primstaler Hammelzauber - einem alkoholischen Getränk mit unbekannten Zutaten - sowie dem jährlichen Rollatorenrennen, an dem alle noch bewegungsfähigen Senioren des Orten teilnehmen. Die Kirmes lockt auch viele ehemalige Primstaler und „ausgewanderte Kinder“ zurück in das Heimatdorf.
Die diesjährige Kirmes verläuft jedoch anderes als die anderen. in der ersten Kirmesnacht werden gleich 12 Straftaten verübt:
Dabei handelt es sich um eine Erpressung, einen Diebstahl, eine Sachbeschädigung, eine versuchte Vergewaltigung, eine schwere Körperverletzung, einen ungeklärter Todesfall mit Leichenschändung, eine Entführung, einen Einbruch, eine Verleumdung, eine Brandstiftung und einen Fischfrevel.
Saarbrücken schickt die junge Kommissarin Paula, die wenigstens einige der Straftaten aufklären soll. Paula wird von der Dorfgemeinschaft nett aufgenommen, aber natürlich kann ihr keiner etwas über die Straftaten erzählen. Auch der Dorfpolizist Harald II ist keine große Hilfe, da er eine eigene Dorfgerichtsbarkeit anzuwenden scheint. Der Einzige, der sich wirklich mit der Geschichte Primatals und seinen Bewohnern auskennt ist der alte Jus, der Paula bei ihren Ermittlungen unterstützen soll. Aber auch Jus verbindet mit Primatal eine eigene Geschichte.
Frank P.Meyer ist ein toller Zukunftsroman gelungen, der selbst in seinen Science Fiction Elementen das schon heute angedachte weiterentwickelt. So gibt es nur noch ferngesteuerte, selbstlenkende Autos a la google cars, überall Überwachungskameras auf den Straßen, an öffentlichen Plätzen und selbst in den Wohnhäusern außer im Bad und im Schlafzimmer. Die Menschen tragen Armbänder , die ihre Gesundheitsdaten an medizinischen Zentren und Pfleger übermitteln, Drohnen liefert Medikamente, die Post oder Mahlzeiten vor die Haustür. Alles überwacht, ferngesteuert und jederzeit kontrollierbar. Aber dennoch konnten diese Straftaten unentdeckt geschehen, was auf Lücken im System deutet.
Hammelzauber erinnert an die alte - unsere - Zeit, die irgendwie in eine Zeit nach dem Gau eingegangen ist. Die Menschen und ihre Gefühle sind geblieben, aber die Umstände sind anders geworden. Meyer gelingt es sehr gut, auf unterhaltsame und spannende Weise den Überwachungsstaat angeblich „zum Wohle des Menschen“ zu zeigen und wie findige Menschen, die Lücken im System nutzen können, um ihm wieder zu entkommen.
Conte Verlag, 2016
Seiten 456, 19,90 Euro
In einer nicht zu fernen Zukunft gab es eine Kernschmelze im französischen Atomkraftwerk Cattenom, die weite Teile der umliegenden Länder unbewohnbar gemacht hat. Zuerst wurde aus politischen Gründen nur 30 km im Umkreis abgesperrt, wodurch in Luxemburg, Frankreich und Deutschland schon Kleinstädte wie Esch-sur-Alzette, Thionville und Herzig dichtgemacht wurden. Als die Speerzone aufgrund der Strahlenbelastung auf 50 km im Umkreis erweitert werden musste, wurde das Ausmaß der Katastrophe klar, weil sie nun auch Belgien als ein viertes Land sowie überregional bekannte Städte betraf. Zum Beispiel wurde Luxemburg mit seinen tausenden EU-Beamten geräumt.
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Der kleine Ort Primstal im Nordsaarland - von dem ich schon begeistert in Frank P. Meyers Roman „Normal passiert da Nichts“ (Conte Verlag 2012) gelesen habe - widersetzt sich den Umsiedlungsbestrebungen der Regierung. Also wird der Ort in zwei Teile geteilt: einer wird Speerzone, der andere mit gleicher Strahlenbelastung jedoch für bewohnbar erklärt. Natürlich nehmen die jungen Leute mit kleinen Kindern oder Kinderwünschen das Geld der Regierung und gehen weg. Der harte Kern aber bleibt in Primstal und so wird der Ort immer älter, quasi zum „Wartesaal Gottes“ am Rande der Speerzone.
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Dank der großzügigen Entschädigungs-Millionen der Regierung haben die verbleibenden Bewohner eine funktionierende Dorfgemeinschaft. Es gibt eine ordentliche Dorfmensa in der ehemaligen Grundschule. Die medizinische Versorgung ist aufgrund eines technisch und personell gut ausgestatteten Gesundheitszentrum ausgezeichnet, es stehen genug Pfleger und Betreuungskräfte zu Verfügung, es gibt einen Bringservice für Medikamente und Nahrungsmittel; „eigentlich ein Paradies für alte Leute, wenn es nicht so strahlen würde“.
Höhepunkt des Dorflebens ist die alljährliche Kirmes mit dem Primstaler Hammelzauber - einem alkoholischen Getränk mit unbekannten Zutaten - sowie dem jährlichen Rollatorenrennen, an dem alle noch bewegungsfähigen Senioren des Orten teilnehmen. Die Kirmes lockt auch viele ehemalige Primstaler und „ausgewanderte Kinder“ zurück in das Heimatdorf.
Die diesjährige Kirmes verläuft jedoch anderes als die anderen. in der ersten Kirmesnacht werden gleich 12 Straftaten verübt:
Dabei handelt es sich um eine Erpressung, einen Diebstahl, eine Sachbeschädigung, eine versuchte Vergewaltigung, eine schwere Körperverletzung, einen ungeklärter Todesfall mit Leichenschändung, eine Entführung, einen Einbruch, eine Verleumdung, eine Brandstiftung und einen Fischfrevel.
Saarbrücken schickt die junge Kommissarin Paula, die wenigstens einige der Straftaten aufklären soll. Paula wird von der Dorfgemeinschaft nett aufgenommen, aber natürlich kann ihr keiner etwas über die Straftaten erzählen. Auch der Dorfpolizist Harald II ist keine große Hilfe, da er eine eigene Dorfgerichtsbarkeit anzuwenden scheint. Der Einzige, der sich wirklich mit der Geschichte Primatals und seinen Bewohnern auskennt ist der alte Jus, der Paula bei ihren Ermittlungen unterstützen soll. Aber auch Jus verbindet mit Primatal eine eigene Geschichte.
Frank P.Meyer ist ein toller Zukunftsroman gelungen, der selbst in seinen Science Fiction Elementen das schon heute angedachte weiterentwickelt. So gibt es nur noch ferngesteuerte, selbstlenkende Autos a la google cars, überall Überwachungskameras auf den Straßen, an öffentlichen Plätzen und selbst in den Wohnhäusern außer im Bad und im Schlafzimmer. Die Menschen tragen Armbänder , die ihre Gesundheitsdaten an medizinischen Zentren und Pfleger übermitteln, Drohnen liefert Medikamente, die Post oder Mahlzeiten vor die Haustür. Alles überwacht, ferngesteuert und jederzeit kontrollierbar. Aber dennoch konnten diese Straftaten unentdeckt geschehen, was auf Lücken im System deutet.
Hammelzauber erinnert an die alte - unsere - Zeit, die irgendwie in eine Zeit nach dem Gau eingegangen ist. Die Menschen und ihre Gefühle sind geblieben, aber die Umstände sind anders geworden. Meyer gelingt es sehr gut, auf unterhaltsame und spannende Weise den Überwachungsstaat angeblich „zum Wohle des Menschen“ zu zeigen und wie findige Menschen, die Lücken im System nutzen können, um ihm wieder zu entkommen.
Conte Verlag, 2016
Seiten 456, 19,90 Euro
Für das Rezensionsexemplar danken wir:
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