Das mit der Liebe.....
In den letzten Monaten habe ich wieder viel quergelesen und in manche Bücher kippte ich hinein und wollte dann unbedingt noch mehr von der Schriftstellerin lesen oder einen Autor wieder entdecken, den ich schon Jahre nicht mehr im Fokus hatte. Das hat natürlich immer mit dem eigenen Leben auch zu tun und deshalb ist es manchmal so spannend, ein Buch wieder zu lesen: wie einem alten Freund über den Weg zu laufen und herauszufinden, wie sehr er sich verändert hat, wie sehr sie sich gleichgeblieben ist – und was man über sich selbst dabei herausfindet.
Ich schreibe seit einem Jahr an einem Familienroman, der eigentlich etwas mit Mut und Feigheit zu tun hat und den Geheimnissen, die das Verständnis füreinander oft verhindern. Und über allem steht die Liebe oder die Illusion, die man von ihr pflegt. Also habe ich hier für euch eine wilde Mischung von Romanen, die euch vielleicht auch interessiert und die nicht unbedingt auf den Stößen der Bestseller zu finden, aber doch leicht zu erstehen sind.
Ich fange mit einem Roman aus Wien an:
Ingrid Maria Lang: Glasscherbeninsel
Verlagshaus hernals, Wien 2015, 300S. Geb.
Es handelt sich hier um den 2. Roman der Autorin, die ihre Figuren fein ausarbeitet und ein oft geradezu Nestroy'sches Gespür für Namensgebung hat. Sie ist in Donaunähe aufgewachsen, geprägt von Dorf, Vorstadt und Flussraum, geprägt von Kriegsfolgen und einer Kraft schenkenden Mutter, geprägt vom ungestüm vorwärts drängenden Zukunftsglauben der 60-er Jahre. Sie fängt früh zu arbeiten an, gehört zu den sich emanzipierenden Töchtern der Trümmerfrauen, die auch nach der Hochzeit berufstätig bleiben.
Sie kann Menschen gut beurteilen, was ihr im Büro, zuerst in der Textilbranche, später beim Film und im Kinoverleih, zum Schluss dann in der Werbebranche zugute kommt. Von Anfang an ist sie sportbegeistert und liest. Sie liest mehr und auch anderes als ihre Freundinnen und ihre Familie. Sie beginnt mit Kurzgeschichten und entdeckt schnell, dass ihre wahre Liebe der langen Form gilt.
In diesem ersten Buch „Wassermoleküle“, das 2010 den Preis der Stadt Wien erhielt und ein spannendes, sprachlich überzeugendes Debüt über eine schwierige Mutter-Tochter-Konstellation vor dem Hintergrund von Massenkündigungen und der Aufgabe der letzten großen Schiffswerft ist, verwendete Lang das Wasser geschickt auch als Motiv für Erfolg und Versagen.
Im zweiten Roman „Glasscherbeninsel“ bleibt sie der Donau treu. Der Fluss jedoch ist diesmal nicht Richtung gebende Melodie, sondern wichtige Kulisse: er trennt die Menschen räumlich und sozial, er wird zum Ort tödlichen Schicksals und einer Liebe, die an Konventionen scheitert, aber auch am Schweigen und dummen Zufällen.
In der „Die Glasscherbeninsel“ beschreibt sie die Welt der Emporkömmlinge nach dem zweiten Weltkrieg, die Spießbürger, die in heimelig gestalteten Nischen die Fassade des Großbürgertums imitieren und als Versteck für ihre Vorurteile verwenden. Der Ort ist Rainbruck an der Rainach, im Dunstkreis von Wien, und Heimat und Standort der Familie Bariello.
Die Bariellos scheinen ein kleiner feiner Clan zu sein. Lorenzo und seine Kusine Felicitas, Lolo und Fee genannt, sind von Geburt an eng verbunden, und nichts kann dieser Freundschaft etwas anhaben. Lolos erste, stürmisch verehrte Freundin schafft es, die Familie zu entzweien, Fees große Liebe führt ein weiteres, blutiges Unglück herbei. Was sich so schwarz anhört und so „liebesfeindlich“, gerät hier jedoch zu einem berührenden Bericht über die Macht der Liebe und ein bedrohliches Abhängigkeitsverhältnis.
Im teilweise verschwiegenen, teilweise offenbarten Lügengeflecht von Eltern und Großeltern werden die zwei erwachsen, stehen einander bei, auch als die Folgen ihrer Handlungen alles desaströs verändern. Beide müssen mit erdrückender Schuld leben lernen und mit der Sehnsucht nach Vergebung.
Und beide hören nicht auf, auf das Wunder der Liebe zu hoffen, selbst in von Sarkasmus und Verlust geprägten Zeiten.
Das dramatische Element der Liebe findet sich ebenso thrillermäßig in folgendem Band aus Paris:
Julia Deck: VIVIANE ELISABETH FAUVILLE
Roman, übertragen von Anne Weber Klaus Wagenbach Verlag 2013, geb. 141 S.
Ja, es gibt bereits einen neueren Roman von der 1974 geborenen Journalistin und Schriftstellerin, aber ich diesmal über ihr Debüt sprechen.
Zwölf Wochen alt ist das Baby im Arm der Frau, die es in einer fast leeren Wohnung wiegt und sich gehetzt fragt, was wirklich passierte, weshalb sie so sicher ist, gerade ihren Psychoanalytiker umgebracht zu haben. Draußen versinkt Paris in der Nacht, drinnen hält sich Viviane Elisabeth Fauville an ihrer Tochter fest und versucht verzweifelt, die letzten Stunden zu rekonstruieren.
"Sie haben die Messer an sich genommen und in Ihre Handtasche gesteckt, daran erinnern Sie sich, und das ist schon gar nicht so schlecht."
Direkt wird die Heldin von ihrer Schöpferin angesprochen, die Perspektive zwingt den Leser, jede Distanz schnell fallen zu lassen, sich auf das verwirrende und erschreckende Leben Vivianes einzulassen. Sie ist knapp über vierzig, von ihrem Mann frisch verlassen, noch im Mutterschutz, ihre Vertretung in der Firma scheint effizienter und beliebter als sie zu sein. Vor drei Jahren haben seltsame Aussetzer sie so beunruhigt, dass sie die Hilfe eines Arztes suchte. Er ist mittlerweile eine Quelle steten Ärgers für sie, nur notwendiges Übel. Und nun ein blutbesudelter Leichnam, den sie vor wenigen Stunden verlassen hat. Hat sie die Kontrolle komplett verloren?
Schon um ihrer selbst willen muss sie den Fall aufklären. Offensiv beginnt sie zu schnüffeln, stalkt die schwangere Geliebte des Arztes, die Ehefrau, einen Patienten, der von der Polizei kurze Zeit verdächtigt wird. Ihre eigenen Angaben beim untersuchenden Beamten bringen sie jedoch noch mehr in die Bredouille. Denn Viviane, die sich selbst immer als Elisabeth vorstellt, gibt als Alibi ihre Mutter an, die seit acht Jahren tot ist.
Das Tempo steigert sich rasant bis zum Nervenzusammenbruch und einer polizeilichen Verwahrung, die im Spital endet. Am Ende lösen sich die Rätsel nur auf verwirrende Weise, weil Julia Deck die Geschichten hinter der Geschichte gekonnt durchschimmern lässt, und es eben nicht nur um ein Verbrechen geht, sondern um die literarisch überzeugende Darstellung einer gespaltenen Persönlichkeit.
Warum rede ich nun hier zum Thema Liebe über diesen kompliziert gebauten Thriller? Weil es um Liebe geht. Weil dieses Debüt ein dichtes Werk voller Schmerz und Sekundenwitz (ja, auch den!) ist, weil es geniale Beschreibungen von Paris gibt. Alles wunderbar übersetzt von Anne Weber, die selbst auch Schriftstellerin ist.
Der Roman ist ein spezielles Juwel, um sich dem Rätsel Mensch zu nähern, kein Buch, um sich zu entspannen.
Und nun mache ich einen Riesensprung, der mich zwar zu einer britischen Schriftstellerin führt, aber der geografische Hintergrund ihres Romans liegt im Süden. Ja, es ist ein Roman über Flucht und Heimatsuche, über ein Kind, dessen Mutter versucht hat, ihm eine bessere Zukunft zu ermöglichen, über Liebe in allen Erscheinungsformen. Vor allem aber ist es eine spannende Geschichte von einem, der auszog, das Glück zu finden.
Black Mamba Boy - Nadifa Mohamed
Roman, aus dem Englischen von Susann Urban. C.-H.-Beck-Verlag, München 2015,geb. 366S.
Im Oktober 1935 versuchen der kleine Jama und seine Mutter, Gastarbeiterin aus Eritrea, in Aden ihr Überleben. Guure, angehimmelter Vater und Ehemann, ein Musiker und Träumer, hat sich in den Sudan abgesetzt, um dort bekannt und reich zu werden. Jamas Schule fürs Leben werden die Straßen von Aden, die Freundschaft mit zwei anderen Straßenjungen, Ausgegrenzte wie er. Die sich schuftende Mutter erzählt ihm abends Geschichten und impft ihm den Wunsch nach einem gesicherten Leben ein. Erst während ihres Sterbens wird ihm klar, wie viel sie bereits für ihn geleistet hat. Der Clan holt das Kind nach Eritrea zurück. Die Sehnsucht nach dem verschollenen Vater bringt Jama dazu, den lieblosen Familienanschluss aufzugeben. Er geht Richtung Norden, um Guure zu finden. Zwölf Jahre ist Jama unterwegs. Er quert die französische Kolonie Dschibuti, gerät in der italienischen Kolonie Eritrea für kurze Zeit in die italienische Armee, ein Kindersoldat, ausgeliefert den Schlächtern hinter der Front. Von einer flüchtenden Gruppe zur nächsten wird er weitergereicht. Irgendwo in Äthiopien konfrontiert man ihn mit dem Tod des Vaters, dessen Besitz ein winziger Koffer mit seinem Instrument und einem gelb lackierten Spielzeugauto darstellt.
Das Verlangen nach einer sicheren Heimat treibt Jama weiter. Dass er nicht aufgibt, liegt auch an der irrationalen Erwartung, die ein anderer kleiner Junge, den er vor dem Verhungern rettet, in ihn setzt. Er verliebt sich, verbringt wenige Wochen im Glück, heiratet überstürzt und erkennt, dass er seiner Frau nichts bieten kann. Also setzt er sich ab, um als Matrose im Norden bei den Engländern anzuheuern. Die verlassene Frau bleibt, klagende Parallele zu seiner Mutter, zurück.
Während Jama sich durch die Kriegswirren Richtung Kairo bewegt, werden in Europa Juden ermordet. Kreuzen werden sich die Wege Vertriebener 1947, als die Briten den jüdischen Überlebenden auf der Exodus die Landung in Palästina verweigern. Zu diesem Zeitpunkt ist Jama den tödlichen Gefängnissen dort entkommen, hat es geschafft, an einen britischen Pass heranzukommen und tatsächlich als Matrose angeheuert zu werden. Sein Schiff ist die Runnymede, das Kerkerschiff, mit dem die Briten die Passagiere der Exodus gegen ihren Willen zurück nach Hamburg schaffen. In England hat er endlich Geld in der Tasche und verschleudert es leichtsinnig. Doch Mohamed hat noch eine überraschende und überzeugende Wendung parat. Dass Heimat nur dort ist, wo Freunde leben, die uns verankern, wird endlich Jamas Schlussfolgerung.
Mohamed hat es geschafft, eine Weltgegend ins Licht zu rücken, die im besten Fall nur als Piratenküste in den Nachrichten Erwähnung fand. Die vielfältigen Lebensformen, geschichtlichen Hintergrund und Alltagsleben entfaltet sie mit großartig gewählten Details. In diesen Details steckt auch die Überraschung dieses Buches über Väter und Söhne: Es ist ein Roman über die starken Frauen, die hinter den irrenden Flüchtlingen stehen. Wegen seiner Mutter, wegen einer alten Tante, wegen einer fast sprachlosen Jüdin wird Jamas Geschichte zu einer Liebesreise, die ihn am Ende bei Bethlehem, seiner Frau, die Quintessenz von Heimat finden lässt.
So wird aus dieser Geschichte einer Suche, aus dem Entwicklungsroman eines Zehnjährigen, einer grausamen Verbrechensauflistung ein herzergreifender Liebesroman, und Somalia ein Land, das Gestalt gewinnt.
Ja, ich gebe zu, das ist eine wilde Mischung diesmal! Der nächste Beitrag wird amerikanisch dominiert sein, denn ich stimme mich langsam auf meine nächste große, wochenlange Reise ein, die mich an die Ostküste und in die Appalachen führt. Was mir dort von Boston bis Florida unterkommt, garniert mit Büchern und Anekdoten, werde ich gerne hier im Blogg Häppchen weise mit euch teilen.
Aber davor möchte ich mit euch Ende des Monats noch Elizabeth Strout, JRMoehringer und ähnlich spannend gute Autoren besprechen.
In den letzten Monaten habe ich wieder viel quergelesen und in manche Bücher kippte ich hinein und wollte dann unbedingt noch mehr von der Schriftstellerin lesen oder einen Autor wieder entdecken, den ich schon Jahre nicht mehr im Fokus hatte. Das hat natürlich immer mit dem eigenen Leben auch zu tun und deshalb ist es manchmal so spannend, ein Buch wieder zu lesen: wie einem alten Freund über den Weg zu laufen und herauszufinden, wie sehr er sich verändert hat, wie sehr sie sich gleichgeblieben ist – und was man über sich selbst dabei herausfindet.
Ich schreibe seit einem Jahr an einem Familienroman, der eigentlich etwas mit Mut und Feigheit zu tun hat und den Geheimnissen, die das Verständnis füreinander oft verhindern. Und über allem steht die Liebe oder die Illusion, die man von ihr pflegt. Also habe ich hier für euch eine wilde Mischung von Romanen, die euch vielleicht auch interessiert und die nicht unbedingt auf den Stößen der Bestseller zu finden, aber doch leicht zu erstehen sind.
Ich fange mit einem Roman aus Wien an:
https://images-na.ssl-images-amazon.com/images/I/516e7pKYNYL.jpg |
Ingrid Maria Lang: Glasscherbeninsel
Verlagshaus hernals, Wien 2015, 300S. Geb.
Es handelt sich hier um den 2. Roman der Autorin, die ihre Figuren fein ausarbeitet und ein oft geradezu Nestroy'sches Gespür für Namensgebung hat. Sie ist in Donaunähe aufgewachsen, geprägt von Dorf, Vorstadt und Flussraum, geprägt von Kriegsfolgen und einer Kraft schenkenden Mutter, geprägt vom ungestüm vorwärts drängenden Zukunftsglauben der 60-er Jahre. Sie fängt früh zu arbeiten an, gehört zu den sich emanzipierenden Töchtern der Trümmerfrauen, die auch nach der Hochzeit berufstätig bleiben.
Sie kann Menschen gut beurteilen, was ihr im Büro, zuerst in der Textilbranche, später beim Film und im Kinoverleih, zum Schluss dann in der Werbebranche zugute kommt. Von Anfang an ist sie sportbegeistert und liest. Sie liest mehr und auch anderes als ihre Freundinnen und ihre Familie. Sie beginnt mit Kurzgeschichten und entdeckt schnell, dass ihre wahre Liebe der langen Form gilt.
In diesem ersten Buch „Wassermoleküle“, das 2010 den Preis der Stadt Wien erhielt und ein spannendes, sprachlich überzeugendes Debüt über eine schwierige Mutter-Tochter-Konstellation vor dem Hintergrund von Massenkündigungen und der Aufgabe der letzten großen Schiffswerft ist, verwendete Lang das Wasser geschickt auch als Motiv für Erfolg und Versagen.
Im zweiten Roman „Glasscherbeninsel“ bleibt sie der Donau treu. Der Fluss jedoch ist diesmal nicht Richtung gebende Melodie, sondern wichtige Kulisse: er trennt die Menschen räumlich und sozial, er wird zum Ort tödlichen Schicksals und einer Liebe, die an Konventionen scheitert, aber auch am Schweigen und dummen Zufällen.
In der „Die Glasscherbeninsel“ beschreibt sie die Welt der Emporkömmlinge nach dem zweiten Weltkrieg, die Spießbürger, die in heimelig gestalteten Nischen die Fassade des Großbürgertums imitieren und als Versteck für ihre Vorurteile verwenden. Der Ort ist Rainbruck an der Rainach, im Dunstkreis von Wien, und Heimat und Standort der Familie Bariello.
Die Bariellos scheinen ein kleiner feiner Clan zu sein. Lorenzo und seine Kusine Felicitas, Lolo und Fee genannt, sind von Geburt an eng verbunden, und nichts kann dieser Freundschaft etwas anhaben. Lolos erste, stürmisch verehrte Freundin schafft es, die Familie zu entzweien, Fees große Liebe führt ein weiteres, blutiges Unglück herbei. Was sich so schwarz anhört und so „liebesfeindlich“, gerät hier jedoch zu einem berührenden Bericht über die Macht der Liebe und ein bedrohliches Abhängigkeitsverhältnis.
Im teilweise verschwiegenen, teilweise offenbarten Lügengeflecht von Eltern und Großeltern werden die zwei erwachsen, stehen einander bei, auch als die Folgen ihrer Handlungen alles desaströs verändern. Beide müssen mit erdrückender Schuld leben lernen und mit der Sehnsucht nach Vergebung.
Und beide hören nicht auf, auf das Wunder der Liebe zu hoffen, selbst in von Sarkasmus und Verlust geprägten Zeiten.
Das dramatische Element der Liebe findet sich ebenso thrillermäßig in folgendem Band aus Paris:
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Julia Deck: VIVIANE ELISABETH FAUVILLE
Roman, übertragen von Anne Weber Klaus Wagenbach Verlag 2013, geb. 141 S.
Ja, es gibt bereits einen neueren Roman von der 1974 geborenen Journalistin und Schriftstellerin, aber ich diesmal über ihr Debüt sprechen.
Zwölf Wochen alt ist das Baby im Arm der Frau, die es in einer fast leeren Wohnung wiegt und sich gehetzt fragt, was wirklich passierte, weshalb sie so sicher ist, gerade ihren Psychoanalytiker umgebracht zu haben. Draußen versinkt Paris in der Nacht, drinnen hält sich Viviane Elisabeth Fauville an ihrer Tochter fest und versucht verzweifelt, die letzten Stunden zu rekonstruieren.
"Sie haben die Messer an sich genommen und in Ihre Handtasche gesteckt, daran erinnern Sie sich, und das ist schon gar nicht so schlecht."
Direkt wird die Heldin von ihrer Schöpferin angesprochen, die Perspektive zwingt den Leser, jede Distanz schnell fallen zu lassen, sich auf das verwirrende und erschreckende Leben Vivianes einzulassen. Sie ist knapp über vierzig, von ihrem Mann frisch verlassen, noch im Mutterschutz, ihre Vertretung in der Firma scheint effizienter und beliebter als sie zu sein. Vor drei Jahren haben seltsame Aussetzer sie so beunruhigt, dass sie die Hilfe eines Arztes suchte. Er ist mittlerweile eine Quelle steten Ärgers für sie, nur notwendiges Übel. Und nun ein blutbesudelter Leichnam, den sie vor wenigen Stunden verlassen hat. Hat sie die Kontrolle komplett verloren?
Schon um ihrer selbst willen muss sie den Fall aufklären. Offensiv beginnt sie zu schnüffeln, stalkt die schwangere Geliebte des Arztes, die Ehefrau, einen Patienten, der von der Polizei kurze Zeit verdächtigt wird. Ihre eigenen Angaben beim untersuchenden Beamten bringen sie jedoch noch mehr in die Bredouille. Denn Viviane, die sich selbst immer als Elisabeth vorstellt, gibt als Alibi ihre Mutter an, die seit acht Jahren tot ist.
Das Tempo steigert sich rasant bis zum Nervenzusammenbruch und einer polizeilichen Verwahrung, die im Spital endet. Am Ende lösen sich die Rätsel nur auf verwirrende Weise, weil Julia Deck die Geschichten hinter der Geschichte gekonnt durchschimmern lässt, und es eben nicht nur um ein Verbrechen geht, sondern um die literarisch überzeugende Darstellung einer gespaltenen Persönlichkeit.
Warum rede ich nun hier zum Thema Liebe über diesen kompliziert gebauten Thriller? Weil es um Liebe geht. Weil dieses Debüt ein dichtes Werk voller Schmerz und Sekundenwitz (ja, auch den!) ist, weil es geniale Beschreibungen von Paris gibt. Alles wunderbar übersetzt von Anne Weber, die selbst auch Schriftstellerin ist.
Der Roman ist ein spezielles Juwel, um sich dem Rätsel Mensch zu nähern, kein Buch, um sich zu entspannen.
Und nun mache ich einen Riesensprung, der mich zwar zu einer britischen Schriftstellerin führt, aber der geografische Hintergrund ihres Romans liegt im Süden. Ja, es ist ein Roman über Flucht und Heimatsuche, über ein Kind, dessen Mutter versucht hat, ihm eine bessere Zukunft zu ermöglichen, über Liebe in allen Erscheinungsformen. Vor allem aber ist es eine spannende Geschichte von einem, der auszog, das Glück zu finden.
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Black Mamba Boy - Nadifa Mohamed
Roman, aus dem Englischen von Susann Urban. C.-H.-Beck-Verlag, München 2015,geb. 366S.
Im Oktober 1935 versuchen der kleine Jama und seine Mutter, Gastarbeiterin aus Eritrea, in Aden ihr Überleben. Guure, angehimmelter Vater und Ehemann, ein Musiker und Träumer, hat sich in den Sudan abgesetzt, um dort bekannt und reich zu werden. Jamas Schule fürs Leben werden die Straßen von Aden, die Freundschaft mit zwei anderen Straßenjungen, Ausgegrenzte wie er. Die sich schuftende Mutter erzählt ihm abends Geschichten und impft ihm den Wunsch nach einem gesicherten Leben ein. Erst während ihres Sterbens wird ihm klar, wie viel sie bereits für ihn geleistet hat. Der Clan holt das Kind nach Eritrea zurück. Die Sehnsucht nach dem verschollenen Vater bringt Jama dazu, den lieblosen Familienanschluss aufzugeben. Er geht Richtung Norden, um Guure zu finden. Zwölf Jahre ist Jama unterwegs. Er quert die französische Kolonie Dschibuti, gerät in der italienischen Kolonie Eritrea für kurze Zeit in die italienische Armee, ein Kindersoldat, ausgeliefert den Schlächtern hinter der Front. Von einer flüchtenden Gruppe zur nächsten wird er weitergereicht. Irgendwo in Äthiopien konfrontiert man ihn mit dem Tod des Vaters, dessen Besitz ein winziger Koffer mit seinem Instrument und einem gelb lackierten Spielzeugauto darstellt.
Das Verlangen nach einer sicheren Heimat treibt Jama weiter. Dass er nicht aufgibt, liegt auch an der irrationalen Erwartung, die ein anderer kleiner Junge, den er vor dem Verhungern rettet, in ihn setzt. Er verliebt sich, verbringt wenige Wochen im Glück, heiratet überstürzt und erkennt, dass er seiner Frau nichts bieten kann. Also setzt er sich ab, um als Matrose im Norden bei den Engländern anzuheuern. Die verlassene Frau bleibt, klagende Parallele zu seiner Mutter, zurück.
Während Jama sich durch die Kriegswirren Richtung Kairo bewegt, werden in Europa Juden ermordet. Kreuzen werden sich die Wege Vertriebener 1947, als die Briten den jüdischen Überlebenden auf der Exodus die Landung in Palästina verweigern. Zu diesem Zeitpunkt ist Jama den tödlichen Gefängnissen dort entkommen, hat es geschafft, an einen britischen Pass heranzukommen und tatsächlich als Matrose angeheuert zu werden. Sein Schiff ist die Runnymede, das Kerkerschiff, mit dem die Briten die Passagiere der Exodus gegen ihren Willen zurück nach Hamburg schaffen. In England hat er endlich Geld in der Tasche und verschleudert es leichtsinnig. Doch Mohamed hat noch eine überraschende und überzeugende Wendung parat. Dass Heimat nur dort ist, wo Freunde leben, die uns verankern, wird endlich Jamas Schlussfolgerung.
Mohamed hat es geschafft, eine Weltgegend ins Licht zu rücken, die im besten Fall nur als Piratenküste in den Nachrichten Erwähnung fand. Die vielfältigen Lebensformen, geschichtlichen Hintergrund und Alltagsleben entfaltet sie mit großartig gewählten Details. In diesen Details steckt auch die Überraschung dieses Buches über Väter und Söhne: Es ist ein Roman über die starken Frauen, die hinter den irrenden Flüchtlingen stehen. Wegen seiner Mutter, wegen einer alten Tante, wegen einer fast sprachlosen Jüdin wird Jamas Geschichte zu einer Liebesreise, die ihn am Ende bei Bethlehem, seiner Frau, die Quintessenz von Heimat finden lässt.
So wird aus dieser Geschichte einer Suche, aus dem Entwicklungsroman eines Zehnjährigen, einer grausamen Verbrechensauflistung ein herzergreifender Liebesroman, und Somalia ein Land, das Gestalt gewinnt.
Ja, ich gebe zu, das ist eine wilde Mischung diesmal! Der nächste Beitrag wird amerikanisch dominiert sein, denn ich stimme mich langsam auf meine nächste große, wochenlange Reise ein, die mich an die Ostküste und in die Appalachen führt. Was mir dort von Boston bis Florida unterkommt, garniert mit Büchern und Anekdoten, werde ich gerne hier im Blogg Häppchen weise mit euch teilen.
Aber davor möchte ich mit euch Ende des Monats noch Elizabeth Strout, JRMoehringer und ähnlich spannend gute Autoren besprechen.
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