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Clementine Skorpil: Langer Marsch

Liebe Bücherfreaks!

In den letzten Wochen konnte ich das erste Mal seit vielen Jahren völlig unkontrolliert Bücher nach Lust und Laune auswählen, weil ich das Unterrichten von vergleichender Literaturwissenschaft und kreativem Schreiben an Universitäten fast aufgegeben habe. Ja, ich lese Essays, die etwas mit dem Thema meines neuen Romans zu tun haben, aber ich lese querfeldein aus fast allen Genrebereichen – und ich finde das großartig.
Über einige dieser Bücher möchte ich plaudern, weil sie aus dem Mainstream herausragen und vielleicht andere InteressentInnen finden.
Hier ist zuallererst ein spezieller Krimi aus Österreich, der allerdings ganz weit weg, in China spielt.




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Clementine Skorpil: Langer Marsch
Roman // Löcker Verlag // 2017
305 Seiten // 24,80€

Der erste Band dieser nun dreiteiligen Serie erschien vor wenigen Jahren in der deutschen Ariadne- Krimireihe im Argument Verlag. Da wurde die wunderbare alte Ai Ping vorgestellt, wie sie mit ihren gebundenen Füßen 1926 nach Shanghai reist, um ihre Enkelin Pflaumenblüte zu retten („Gefallene Blüten“) und dabei Lou Mang kennen lernt, einen etwas gescheiterten Medizinstudenten, der gerade aus Paris zurückgekehrt ist. Im 2. Band „Guter Mond, du schenkst mir Träume“, der 1927 in Shanghai spielt, kommt auch noch Wen Pi, ein Gassenjunge ins Spiel.

Zum dritten Mal entführt nun Clementine Skorpil in das China der Umbrüche, Bürgerkriege und Erstarken der Kommunisten. Diesmal ist nicht Shanghai die Bühne; die hinreißenden Hauptakteure ihrer zwei ersten Romane sind älter geworden, haben zum Teil Kinder, neue Verantwortungen und damit auch einen Konflikt mit ihrer politischen Überzeugung auszuhalten. Denn Lou Mang hat Schneerose, eine wunderschöne Kurtisane und Freundin von Pflaumenblüte geheiratet und ist nun fertiger Arzt – und immer noch ein linker Idealist. Der Machtkampf in der chinesischen kommunistischen Partei schwelt nicht mehr, sondern wird von Mao trotz der japanischen Bedrohung im Norden geschürt.
Es gibt mehrere Möglichkeiten, sich einer extrem komplizierten politischen Landschaft literarisch zu nähern und einen Standpunkt darzustellen. Bei Skorpil, der Sinologin, kommt profundes Wissen, Recherche und Witz hinzu. Allerdings ist der Witz nicht vordergründig und manchmal erschließt er sich nur denjenigen, die ein wenig von chinesischer Literatur bereits gelesen haben.
Um die große Bitterkeit über die unfassbaren Gräuel etwas zu entschärfen, lässt die Schriftstellerin den bereits greisen Wen Pi erzählen; er hat zumindest überlebt und einen Sohn, für den die Erzählung gedacht ist. Während Maos Langem Marsch war er ein junger Mann, der seinen idealistisch veranlagten Schwager und Arzt Lou Mang begleitet. Seine Schwester Schneerose bleibt allerdings mit den Kindern zurück, soll alleine zwischen den kriegerischen Fronten durchkommen. Denn die Männer wissen, dass die Kinder auf dem Marsch zurückgelassen werden und dass es egal sein wird, ob die Mütter das wollen oder nicht.
Ein gefürchteter General stirbt während eines Essens bei Schneerose, sie verschwindet als Angeklagte hinter Gefängnismauern.
Ab nun verläuft die Handlung an zwei Orten: wir begleiten Männer und Frauen auf ihrem Todesmarsch über die nordwestlichen Gipfel und schwer zugängigen Kriegsregionen, während Mao Fallen legt und seine Widersacher ausbootet, um die Spitze der Partei zu übernehmen. Und wir begleiten die Aufdeckungsarbeit von Schneeroses wenigen Freunden, allen voran Ai Ping und Pflaumenblüte, denen wenig Zeit bleibt, bis das Todesurteil an der schwer gefolterten Schneerose vollzogen werden soll.
Clementine Skorpil hat über einen erstarkenden Diktator geschrieben. Die historischen Persönlichkeiten, die sie im Hintergrund agieren lässt, rücken uns näher. Ein wenig überfordert die Lektüre, bis man alle Namen den einzelnen Akteuren zuordnen kann. Da viele Szenen in Dialogform geschrieben sind, wird diese Verwirrung noch verstärkt. Vielleicht wären da andere stilistische und perspektivische Möglichkeiten hilfreicher oder auch einprägsamer gewesen.
Aber es ist ein gelungener Roman, der internationale Verwicklungen zeigt, das Schicksal des Einzelnen nahe bringt ohne Kitsch und Klischee. Skorpil schafft es, fremdes Leid aus einer völlig fremden Kultur für uns nachempfindbar darzustellen. Sie zeigt auf, ohne zu belehren.
Sie macht Mut mit einer Geschichte, deren gewalttätige Ausweglosigkeit ein Überleben für wenig möglich hält – und die zu einem Plädoyer für Menschlichkeit gerät. Und gerade auch deshalb empfehle ich es weiter.

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