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Sophie Bassignac: Familiäre Verhältnisse

Roman // Original: Séduire Isabelle // 2016
Atlantik Verlag // 2018// Aus dem Französischen von Claudia Steinitz
192  Seiten //  18,00 Euro // Hardcover // ebook 13, 99 Euro


Pierre liebt die wunderschöne und unberechenbare Isabelle und Isabelle liebt ihre Familie. Als der Hochzeitsantrag kurz vor der Tür steht, da Pierre sagt, dass er mit Isabelle gemeinsame Traditionen begründen möchte, lädt ihn Isabelle zu einem Besuch bei ihren Großeltern ein. 

Es ist August, sehr heiß und Isabelles Familie versammelt sich bei den Großeltern auf dem Land, um den 82. Geburtstag von Isabelles Großmutter Henriette zu feiern. Was als erholsame Urlaubstage geplant war, wird für Pierre zu einer anstrengenden Reise zum eigenen Ich. Im Gegensatz zu Isabelle kommt Pierre aus einer ruhigen traditionellen Familie, die ihre Söhne nach den standesgemäßen Werten und Regel erzogen hat: 

"Ich komme aus einer Welt, wo Alles seinen Platz hat...Aus einer Welt, wo alles einen Sinn hat, sogar der Krieg und das Grauen, das tagtäglich mit unerträglicher Wiederholung und Banalität an unseren Augen vorbeizieht. "


Als Pierre jedoch Isabelles Großfamilie kennenlernt, gerät sein fest gefügtes Weltbild ins Wanken. Denn sie sind laut, chaotisch, phantasievoll und lieben einander bedingungslos. Von ihnen wird Pierre immer wieder in für ihn unmögliche Situationen gebracht: Kaffeetrinken im Hühnerstall, von einem wütenden Stier angegriffen, ein Familienausflug an einen Nudistenstrand, während er noch nicht einmal seine eigenen Eltern jemals nackt gesehen hat: "Wie sollte er normal mit einer Zweiundachtzigjährigen sprechen, an derem alten zerknitterten Körper ihre Zigarette und ein origineller großer Ring die einzigen Merkmale von Zivilisation waren?" Und auch der Rest der Familie kommt immer wieder auf die für Pierre verrücktesten Ideen.

Während Pierres Würde als erwachsener Mann und politischer Journalist schwer gekränkt ist, beginnt sein eigentliches Ich die Verrücktheiten und den engen Familienzusammenhalt zu genießen. Er erkennt, dass man Poesie erschaffen und damit einer Welt entfliehen kann, von der er glaubte, sie jeden Tag mit allen Ungerechtigkeiten ertragen zu müssen:

"Ich habe verstanden, dass man glücklich sein kann. Glücklich trotz allem. Ihr seid Magier, ihr seid Zauberer, zwar gefährlich, aber trotzdem Zauberer. "


Ein tolles Buch um Engstirnigkeit und unsinniges Festhalten an vorgegeben Werten auf der einen Seite und um bedingungslose Liebe und das Verwirklichen von Träumen auf der anderen Seite. Sophie Bassignac schreibt einfühlsam und poetisch und gleichzeitig rasant und abwechslungsreich. Tolle Sachen passieren, aber es gibt auch immer wieder gute Gespräche und tiefe Einsichten, die zum Weiterdenken anregen. Zum Beispiel wenn Großvater James seine letzte Liebe zu einer jungen Koreanerin erlebt, der er hingebungsvoll Haikus schreibt. Oder auf die Freude auf den nächsten Tag und das es in jedem Alter Dinge gibt, die man zum ersten Mal machen kann. 
Familiäre Verhältnisse gibt Freude und Hoffnung und zeigt die Bedeutung der "kleinen Dinge" im Leben auf. 

Für das Rezensionsexemplar danken wir: 

Kommentare

  1. Hey Gisela,

    deine Rezension klingt wie ein Gedicht.

    Tatsächlich fand ich die kleinen Gesten der Familie einfach nur toll. Aber zeigte auch wie wenig wir mittlerweile unser Alter akzeptieren. Ich finde es immer traurig zu lesen das ein älterer Mann sich nur dann wieder jung fühlt, wenn er eine neue junge Liebe findet. Ich weiß das klingt sehr kritisch, aber es ist meine Meinung. Unterhaltsamer fand ich da wie er liebevolle seine Hühner pflegte und sie sogar parfürmierte, nur damit ein Huhn endlich von der Gruppe aufgenommen wurde. :-)

    Mir zeigte das Buch, das es nicht ratsam ist, vorschnell zu urteilen oder sich sogar von Außenstehenden etwas einreden zu lassen. Immerhin berichten die ja nur was sie sehen und sind nur selten wirklich mit dabei.

    Ich hoffe, ich darf deine Rezension verlinken, denn sie ist wirklich toll geschrieben. :-)

    Liebe Grüße und noch ein schönes Wochenende

    Anja

    AntwortenLöschen
  2. Liebe Anja,

    es freut mich sehr, dass dir die Besprechung und das Buch gefallen haben, sowie auch über die Verlinkung!
    Das mit den älteren Männern sehe ich genauso, aber immerhin hat er dadurch gelernt Haikus zu schreiben. Ich weiss auch nicht, ob es richtig ist, dass man im Alter nicht mehr mit der Vergangenheit konfrontiert werden möchte, sondern dass nur die Gegenwart und Zukunft zählen. Aber dass sieht wahrscheinlich jeder anders. Ich fand die vielen kleinen liebevollen Szenen wunderschön und habe das Buch gleich zweimal hintereinander gelesen.

    Liebe Grüße von Gisela

    AntwortenLöschen

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